von Vivienne – März 2005
Ein Kind – um jeden Preis?
Ich sah Vicky von der Seite an. Millerweile schleppte ich zwei Tragtaschen, die wir in einigen Geschäften mit Baby-Abteilung prall gefüllt hatten. Was heißt wir! Vicky war ganz entzückt in jedem Geschäft herumgelaufen und fast immer hatte der Satz: Ist das nicht entzückend? eine wahre Kauforgie bei ihr ausgelöst. Trotzdem amüsierte ich mich über sie. Nachdem sich im Jänner so ganz überraschend herausgestellt hatte, dass sie und Bert wirklich ein Kind erwarteten, befanden sich die beiden in einem Dauerhoch. Natürlich gönnte ich ihr diese Freude von Herzen, immerhin war sie auch schon 37, und nach der Fehldiagnose der Ärzte war die Schwangerschaft für die beiden ein einziges Wunder.
Ich begleitete Vicky auch in die Wohnung, und als sie aufsperrte, erkannte ich im Stiegenhaus eine Frau in unserem Alter, die sehr oberflächlich grüßte und dann weiterging, ohne uns weiter eines Blickes zu würdigen. Vicky zog die Augenbrauen hoch und dann traten wir in die Wohnung ein. Ich stellte die Tüten erleichtert in den Flur, zog die Schuhe aus und folgte meiner Busenfreundin ins Wohnzimmer. Obwohl Vicky selber keinen Kaffee mehr trank, bot sie mir eine Tasse an und schenkte sich selber ein Glas stilles Mineralwasser ein. Wir setzen uns, schnauften kurz und blickten uns lächelnd an. Wer war die Frau? Ich wusste selber nicht, warum ich die Frage gestellt hatte.
Vicky blickte zu Boden. Komisch. Woher hast du gewusst, dass ich an sie denke? Ich zuckte die Achseln. Vicky kam einer Antwort zuvor. Das war Frau Ullrich, sie wohnt einen Stock höher. Verheiratet, zwei Kinder. Aha. Irgendwie steckte in dieser Antwort zu wenig für mich, zu wenig, dass unser beider Interesse gerechtfertigt hätte, denn seltsamerweise wäre mir sonst wohl kaum jemand in Erinnerung geblieben, denn wir zufällig im Treppenhaus eines großen Wohnblocks treffen. Was ist mit ihr? Ich bohrte ungeniert weiter. Vicky trank einen Schluck Wasser. Naja, wie soll ich das erklären. Ich muss wohl weiter ausholen Es ist eine tragische Geschichte, irgendwie. Weißt du, Bert und ich hätten auch alles getan um ein Kind zu bekommen, aber dieses Glück schien uns einfach nicht vergönnt. Also haben wir mehr oder weniger resigniert und schon an Adoption gedacht.
Vicky blickte mich mit ihren bernsteinfarbenen Augen an und ich las Trauer darin, und Mitgefühl. Die Frau Ullrich hatte sogar schon ein Kind, ein gesundes Mädchen, und sie hat sich so sehr ein zweites gewunschen, und dafür hat sie auch alles getan. Meine Freundin schien mit den Gedanken sehr weit weg zu sein, trotzdem sprach sie weiter zu mir. sie hat alles getan dafür und ihren Buben auch bekommen. Aber Vicky brach unvermittelt ab. Ich sollte dir besser die ganze Geschichte erzählen und nicht Bruchstücke. Also. Frau Ullrich wohnt schon über zehn Jahre hier im Haus mit ihrem Mann. Bert kennt sie beide. Und die älteste Tochter geht in die Volksschule, ist eine gute Schülerin. Eine perfekte Familie könnte man sagen, aber Frau Ullrich war ganz erpicht auf einen Sohn.
Ich musste unvermittelt nachdenken über all die Frauen, die unbedingt einen Sohn wollen. Es gibt nicht wenige Vicky riss mich aus den Gedanken. aber nicht wegen ihres Mannes, dass du glaubst. Es war ihre Idee, ganz allein. Und so ist sie wieder schwanger geworden. Vicky spielte mit der Serviette. Und sie hat das Kind verloren. Im dritten Monat. Ohne jede Vorwarnung. Sie hat sich vorher großartig gefühlt, keine Beschwerden. Danach war sie am Boden zerstört, aber die Ärzte beruhigten sie. Es war noch nicht zu spät für eine erneute Schwangerschaft. Aber wie verhext. Auch diesmal verlor sie das Ungeborene nach wenige Monaten. Vicky seufzte, ihre Hände waren ineinander verknotet. Dann blickte sie mich wieder an.
Frau Ullrich war völlig fertig, aber sie gab nicht nach. Sie wurde noch einmal schwanger, verbrachte fast die ganze Schwangerschaft im Spital und wurde ihrer Erzählung nach mit Wehenhemmern geradezu gefüttert. Nach nicht ganz acht Monaten brachte sie das Kind zur Welt. Und es war der ersehnte Bub Vicky trommelte mit den Fingern ein energisches Stakkato auf den Tisch. Ich dachte nach. Das war nicht das Ende der Geschichte. Warum hatte Frau Ullrich so müde und hart gewirkt, als sie an uns vorbeigegangen war? Was war mit dem Kind? Vicky blickte an mir vorbei. Schwer behindert. Mit drei Jahren konnte der Bub weder sitzen noch selber essen oder gar laufen. Er saß immer teilnahmslos im Gitterbett und nahm wenig Notiz von seiner Umwelt.
Vicky ballte die Hände. Jetzt, mit knapp fünf Jahren ist es nicht viel anders. Der Bub wird immer ein Pflegefall und auf fremde Hilfe angewiesen sein. Ich überlegte fieberhaft. Konnte eine Familie so viel Pech haben? Ein Geburtsfehler? Zu wenig Sauerstoff? Vicky schüttelte den Kopf. Nein. Eine Erbkrankheit in der Familie, die nur Buben bekommen. Darum hat sie auch die beiden anderen Ungeborenen verloren die Natur sorgt oft vor, dass solche Kinder, die kaum lebensfähig sind, gar nicht geboren werden. Fast alle Fehlgeburten außer jetzt durch Unfälle – sind normalerweise gar nicht lebensfähig, hat mein Arzt mir erzählt. Der Kreislauf der Natur Und jetzt verstehst du vielleicht, was ich gemeint habe. Wie fragwürdig es bisweilen ist, auf Teufel komm raus ein Kind zu wollen. Krampfhaft. Wenn es wie in solchen Fällen nicht klappen will, hat es meistens einen verborgenen Sinn
Nach einer wahren Begebenheit
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