von Vivienne – März 2005
Von einem Tag auf den anderen
sie mag Musik nur wenn sie laut ist,
wenn sie in den Magen fährt.
Denn dann vergisst sie, dass sie taub ist
Herbert Grönemeyer
Ich kenne Sarah wirklich schon ewig. Als ich noch daheim wohnte und täglich mit dem Zug in die Arbeit fuhr, sahen wir uns oft. Regelmäßig, konnte man sagen. Sie freute sich anscheinend immer, mich zu sehen, lächelte schüchtern und sagte ganz leise: Guten Morgen! Ich nickte, strahlte zurück und bewegte mechanisch die Lippen. Richtig gesagt habe ich nicht immer etwas, das gebe ich zu. Sie hätte mich ja doch nicht gehört, denn Sarah ist taub. Ein hübsches Mädchen an sich, liebenswürdig, nur ein wenig dicklich und den verborgenen Kummer fühlte man oft erst nach dem ersten oder zweiten Blick
Ich habe in anderen Beiträgen meine Philosophie des Lebens immer wieder zu Papier gebracht. Zwei Sorten von Unglücksfällen kann man im Leben eines Menschen unterscheiden, nämlich die selbst verschuldeten und jene, bei denen man unschuldig zum Handkuss kommt. Sarahs Taubheit gehörte zur letzteren Kategorie. Sie war auch nicht gehörlos geboren worden, ganz im Gegenteil, sie war ein ganz normaler Teenager gewesen, der die Handelsakademie in Linz mit sehr gutem Erfolg besucht hatte, lebenslustig, quirlig und hungrig nach Leben. Ich kann mich noch gut erinnern, ich war gerade von meinem Abenteuer Salzburg etwas reuig wieder heimgekehrt, als sie mitten in den Vorbereitungen für den Führerschein gesteckt hatte.
Lachend hatte sie mir anvertraut, wie der cholerische Fahrlehrer bei den Fahrstunden immer wieder etwas anzüglich geworden war. Ja, als junges Mädel findet man so was oft noch sehr lustig, so wie den Besuch beim damaligen, obergeilen Amtsarzt, bei dem man sich als weibliches Wesen zwecks Fleischbeschau ohne Notwendigkeit bis auf die Unterhose ausziehen musste Was hatte sie nicht immer für ein herzhaftes Lachen gehabt! Ein knappes dreiviertel Jahr später hatte sie sich bis zum Hals in Büchern vergraben, die Matura stand an und eine meiner Schwestern wusste mir zu berichten, dass die ehrgeizige Sarah den schriftlichen Part problemlos bestanden hatte.
Dann hörte ich eigenartigerweise nichts mehr von ihr, ich konnte sie auch am Bahnhof nicht mehr ausmachen, aber womöglich war sie längst in Wien, wo sie ja Mathematik studieren hatte wollen. Sarah hatte große Pläne, sie war hochintelligent und wollte etwas aus sich machen. Es dauerte fast ein halbes Jahr, bis die schlimme Nachricht zu mir durchdrang. Sarah war taub geworden. Irreversibel, nichts mehr zu machen. Drei Wochen vor der mündlichen Matura hatte sie einen Gehörsturz erlitten, der sich Tage zuvor durch starkes Ohrrauschen, den so genanten Tinitus, schon angekündigt hatte. Sarah lag in der Folge immer wieder im Spital, erhielt Infusionen und musste unterschiedlichste Untersuchungen über sich ergehen lassen, die alle immer wieder nur ein Ergebnis hatten: man konnte nichts mehr an der Taubheit ändern
Ich habe schon damals des Öfteren darüber nachgedacht, wie man sich wohl als knapp neunzehnjähriges Mädchen fühlt, wenn man so unerwartet derartige Knüppel in den Lebensweg geworfen bekommt. Lebensplanung komplett ungeworfen, auch wenn Sarah die mündliche Matura schließlich erfolgreich nachholte. An ein Studium dachte sie danach nicht mehr, vielleicht haben auch ihre Eltern sie daran gehindert, die ihr einziges Kind, das Opfer dieses Schicksalsschlages geworden war, nur mehr behüten wollten. Behüten von allem was von Außen kam, behüten vor allem und jedem Und Sarah resignierte. Ihr Vater, der beim Land in gehobener Position arbeitete, verschaffte ihr einen Job beim Gehörlosenverband, als Schreibkraft, ein Job, der ihr allerdings nur eine gewisse soziale Sicherheit bot und das Selbstbewusstsein wenig bis gar nicht stärkte.
Sie, die sie so hochtrabende Pläne gehabt hatte für ihr Leben! Mathematikerin hatte sie werden wollen Sarah resignierte also. Und sie veränderte sich. Sie wirkte still und leise, wenig war von der Lebensfreude früherer Tage zu bemerken. Außerdem nahm sie zu, nicht so viel, aber doch merkbar. Und der mangelnde Selbstwert zeigte sich auch in ihrer Kleidung. Sie war meistens unvorteilhaft und bieder angezogen, nicht mehr modern, trendig, wie man heute sagen würde, oder jugendlich. Es gab auch keinen Mann in ihrem Leben, sie ließ vielleicht auch niemanden mehr an sich heran. Die Gebärdensprache beherrschte sie so weit ganz gut, aber mit dem Lippen lesen tat sie sich schwer. Vielleicht auch eine innere Trotzreaktion, weil sie sich mit ihrer Taubheit nie wirklich abgefunden hatte.
Für sich selbst hätte sie eigentlich noch immer hören können, und deshalb weigerte sie sich auch, aus ihrem Zustand das Beste zu machen und ihn auch als neue Chance zu erkennen. Dabei waren ihre Träume verloren gegangen, denn die Hoffnung, eines Tages einfach aufzuwachen und wieder zu hören, als wäre nie etwas gewesen, hatte sich nicht erfüllt. Taub heißt für Sarah weniger gehörlos als vielmehr isoliert, abgeschlossen, gefangen in sich selbst Sie hatte die Zügel ihres Lebens freiwillig aus der Hand gegeben.
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