Rabenmutter?

Ich habe sie nie gut gekannt. Elisabeth Karner, die Frau des früheren Bäckers in der Nachbarsgemeinde. Oder besser gesagt, die Exfrau. Sie war eine hübsche Person gewesen und noch keine dreißig – so habe ich sie als Kind in Erinnerung. Die dunklen Locken fast immer im Gesicht, die dichte Mähne oft in einem Knoten gebändigt. Fünf Jahre war sie mit Ludwig Karner verheiratet und die beiden hatten einen gemeinsamen Sohn. Der Kleine hatte ihre Augen – ein fast überirdisches Blau, leicht verträumt, aber im Laufe der gemeinsamen Jahre war Elisabeth selber das Träumen abhanden gekommen. Kein Wunder. Die junge, an sich lebenslustige Frau wurde von ihren Schwiegereltern beinhart zum Arbeiten gedrillt.

Als billige, kostenlose Arbeitskraft, die natürlich nicht angemeldet wurde und trotzdem sieben Tage die Woche oft bis spät in die Nacht arbeiten musste. Ohne Urlaubstag, ohne Chance auf Regeneration. Besonders perfide tat sich dabei die Schwiegermutter hervor. Ihren einzigen Sohn hatte sie keiner Frau gegönnt, ihn verhätschelt und verwöhnt seit Kindesbeinen, und damit so manche Aspirantin für das Ehebett des Sohnes vergrault. Bei Elisabeth hatte sie aber auf Granit gebissen – Ludwig selber hatte darauf bestanden, sie zu heiraten, und das ließ sie ihre Schwiegermutter täglich immer wieder spüren. Mit Arbeit, mit Beschimpfungen, mit zahllosen Demütigungen. Selbst die Geburt des ersehnten Enkels konnte Frau Karner senior nicht besänftigen. Im Gegenteil, sie versuchte Elisabeth den kleinen Sohn wegzunehmen um die Erziehung zu übernehmen und Elisabeth musste sich auf zwei Fronten nicht nur gegen ihre Schwiegermutter wehren sondern auch um ihr einziges Kind kämpfen.

Ludwig, ihr Mann, war zu schwach um die Eltern zur Räson zu bringen. Er wollte seine Ruhe und Frieden, einem Konflikt mit den Eltern ging er tunlichst aus dem Weg. „Es wird schon!“ Ein Satz, den Elisabeth Karner immer wieder von ihm hören musste und an den sie schon lange nicht mehr glaubte. Glauben konnte, da die Realität täglich ganz anders aussah. Ob Elisabeth Karner insgeheim hoffte, dass ihre Schwiegermutter einmal sterben würde? Mag durchaus sein, dass sie manchmal davon träumte, aber trotz eines Nierenleidens der älteren Geschäftsfrau vergingen fünf Jahre und die Alte strotzte vor Energie. Ein wahres Martyrium für Elisabeth, die ihr Leben so nicht mehr ertrug. Wen wundert das? In den Fängen der Schwiegereltern und ohne die geringste Unterstützung durch den Mann…

Keiner hatte es bemerkt. Im letzten Jahr ihrer Ehe muss Elisabeth ein Verhältnis begonnen haben. Er war ein Außendienstmitarbeiter aus der Steiermark und konnte es leicht einrichten, immer wieder auf einen Kaffee oder einen Imbiss in die Bäckerei zu kommen. Im Nachhinein wunderten sich viele, dass die beiden ihre Liebe so lange geheim halten hatten können. In einer kleinen Gemeinde, in der jeder alles wusste und sich Banalitäten wie ein Lauffeuer verbreiteten… Und schließlich brannte Elisabeth mit dem Mann bei Nacht und Nebel durch. Den Ehering ließ sie ebenso zurück wie alle anderen Habseligkeiten. Sie trug nur das, was sie an dem Tag angezogen hatte. Und ihr Sohn blieb auch zurück. Die Schwiegereltern tobten, nachdem sie die Neuigkeit erfahren hatten. Ludwig muss wie betäubt gewesen sein, was mir erzählt wurde – er realisierte die Flucht seiner Frau lange nicht, so wie er ihre Beweggründe nicht begriff. Für ihn hatte schließlich alles gepasst…

Die Häme war schlimm, die über die entflohene Frau und Rabenmutter ausgeschüttet wurde. Man hatte ihr Martyrium gekannt, aber ihr nicht zugestanden, dass sie nicht mehr konnte, dass sie glücklich werden wollte. So lange es noch ging… Ich war damals ein Kind, ich verstand vieles nicht. Als erwachsene Frau kann ich nur den Kopf schütteln, über das Unrecht, dass der Frau zugefügt wurde – vor allem nach dem sie ihren Mann verlassen hatte. Wie groß muss die Verzweiflung der Frau gewesen sein, das einzige Kind in den Fängen der verhassten Schwiegermutter zurück zu lassen, aber ich selber hätte wohl nicht anders gehandelt. Die Schimpfworte über die angebliche Rabenmutter – reine Falschheit. Denn wenn sich Elisabeth scheiden hätte lassen, wäre sie ohne Chance auf das Sorgerecht für ihren Sohn gewesen. Dafür hätten die Schwiegereltern schon gesorgt. Mit ihrem überraschenden Abschied über Nacht kürzte sie nur das Prozedere selber ab, das sich bei einer gesetzlichen Trennung nur endlos gezogen hätte. Ich verstehe Elisabeth Karner, besser als je. Bisweilen steht man im Leben an einem Scheideweg, und keiner der Wege scheint einladend zu sein. Aber man muss sich für eine Richtung entscheiden….

Ludwig Karner hat nicht mehr geheiratet. Zeit seines Lebens wirkte er verbittert auf mich, er wurde noch wortkarger und seine Mutter mag wohl triumphiert haben, dass sie ihren geliebten Sohn wieder für sich hatte. Allerdings konnte sie sich nicht lange daran erfreuen – noch im selben Herbst erlitt sie ein akutes Nierenversagen, musste regelmäßig in die Dialyse und starb, während sie auf eine Spenderniere wartete. Manch einer meinte im Nachhinein, Elisabeth hätte doch nur noch ein gutes Jahr durchhalten müssen, dann wäre sie die alte Schreckschraube losgeworden. Ich widerspreche – ihre Liebe zu Ludwig war längst tot, sie ging sicher schließlich vor allem deswegen, weil er ihr gleichgültig geworden war… Der geliebte Erbe hat übrigens die Bäckerei nie übernommen – er studierte am Konservatorium in Wien und wurde Organist und Chorleiter. Und wenn ich ihn manchmal sehe: er sieht genau so aus wie seine Mutter…

Nach einer wahren Begebenheit…

© Vivienne

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