Ich starrte aus dem Fenster in der kleinen Pension im Mühlviertel. Schnee fiel unablässig, als hätte der Himmel alle Tore geöffnet und plante die Welt in Schnee zu ersticken. Und mit uns, mit mir und Albert, fing er wohl an, wir, die wir ein paar Tage nach Weihnachten da oben verbringen hatten wollen, um uns von den obligaten Verwandtschaftsbesuchen zu Weihnachten zu erholen. Und mal wieder Zeit nur für uns zwei zu haben. Ohne PC, ohne Handy, ohne irgendwas. Aber um ehrlich zu sein: so hatten wir es uns auch nicht vorgestellt. Zwar hatten wir die ersten Tage noch sehr genossen mit Spaziergängen, mit Besuchen im örtlichen Hallenbad und der Sauna und langen Nächten, die in Lokalen begannen und meistens immer auf dieselbe Art ausklangen… Und auch das tat uns gut, ungestört und losgelöst vom Alltagsstress, der sehr oft an uns zehrte…
Albert sagte nicht viel zu den Schneefällen. Er hatte sich diese Woche frei genommen, das war an sich nicht das Problem, aber er wusste auch, dass bei einem unerwarteten EDV-Problem in der Firma sein Chef Rossecker erwarten würde, er könnte binnen kürzester Zeit in der Firma aushelfen. Sehr wahrscheinlich war so ein Zwischenfall zwar nicht, aber ich wusste, dass diese Eventualität meinem Mann zu schaffen machte. Mehr als er zugab. Deshalb überraschte es mich auch nicht, als er mir nach dem Frühstück eröffnete: „Wir fahren in jedem Fall morgen, und wenn wir einen Schneepflug nehmen!“ Ich musste schmunzeln. Selber hatte ich nicht mehr die ganze Woche Urlaub, aber mir war klar, dass ein kurzer Anruf bei meinem Chef genügen würde, um den Urlaub zu verlängern – falls nötig. Ich war nicht begeistert von Alis Idee, aber ich war auch überzeugt, dass wir es heim schaffen würden. Irgendwie…
Ich lehnte mich an meinen Mann, der etwas nachdenklich vor sich hinstarrte. Leise erklang Musik aus dem Radio und ich er tappte mich dabei, wie ich mitsummte. Ali grinste plötzlich. „Du bist ja gut gelaunt! Macht es dir nichts aus, dass wir hier fast gefangen sind?“ Ich lachte. „Nein. Mit dir würde ich noch hundert Jahre hier bleiben!“ Albert schüttelte den Kopf. „Hundert Jahre? Ist das nicht ein wenig lang?“ Ich stutzte kurz. Mir fiel plötzlich eine Geschichte ein, von der ich einmal gehört hatte. Zwar nicht hundert Jahre, aber doch an die dreißig Jahre oder mehr her. Ich war damals noch ein Kind gewesen… „Willst du nicht erzählen?“ Albert stieß mich mit dem Ellenbogen sanft an. Ich dachte nach. Diese Geschichte begann fast wie ein Märchen, es war einmal…
„Da war dieser junge Mann aus unserer Gegend. Er stammte aus angesehenem Haus, der einzige Sohn im Übrigen. Die Eltern lebten schon lange getrennt, waren aber nicht geschieden, weil das damals nicht üblich war. Nicht üblich bei uns auf dem Land, wo so schon genug getratscht wurde.“ Albert lächelte spöttisch. „Toll, der Bursche. Der muss ja ein echter Superman gewesen sein. Hatte der auch Schattenseiten?“ Kurz überlegte ich. „Ehrlich, ich war damals ein kleines Kind. Ich wusste nur, dass er studiert und seinen Magister mit Links gemacht haben musste. Und dass er im Vorstand einer großen Firma in Linz gesessen hatte, obwohl er noch so jung gewesen war, erfuhr ich erst viel später. Als die Sache schon vorbei war…“ Ich schwieg. Albert sah mich neugierig an, ich merkte das an seinen lebhaften, leuchtenden Augen. „Was vorbei? Spann mich doch nicht auf die Folter, Vivi!“
„Der junge Mann lernte bei einem Vortrag eine junge Studentin kennen. Es muss wohl Liebe auf dem ersten Blick gewesen sein. Und die beiden waren das perfekte Paar, selbst die sonst so uneinigen Eltern des jungen, erfolgreichen Mannes waren begeistert. Es gab damals nicht wenige Neider, die es nicht fassen konnten, dass ein einzelner Mensch so viel Glück haben konnte. Erfolgreich im Beruf, unendlich glücklich in der Liebe. Bis sich die Eltern des jungen Mannes und die Mutter der jungen Frau mit deren Lebensgefährten bei einem Besuch bei den Salzburger Festspielen kennen lernen sollten. Der einflussreiche Senior hatte seine ganzen Beziehungen spielen lassen, um Karten zu organisieren…“ Ich hielt inne. „Ja?“ Albert hatte seine Augen weit geöffnet und jede Faser an ihm schien gespannt bis zum Zerreißen…
„Das Familientreffen geriet zu einem Eklat, Ali. Ja, es muss ein völliger Eklat gewesen sein. Allerdings hat es Ewigkeiten gedauert, bis unsereins die wichtigsten Details erfuhr. Der Angelpunkt war eine lange zurückliegende Affäre des Vaters des jungen Mannes mit der Mutter der jungen Frau, die – du wirst es nicht glauben – tatsächlich die Halbschwester ihres Bräutigams war. Zu allem Überdruss war das Mädel zu dem Zeitpunkt schon schwanger – vom eigenen Bruder… Die freudige Nachricht hätte anscheinend der Höhepunkt der Familienzusammenführung werden sollen…“ Albert nickte. „Ich hatte so was vermutet. Weißt du, was dann passiert ist?“
Ich zog die Stirne in Falten. „Na ja, nicht genau. Die beiden mussten sich natürlich sofort trennen. Er zog meines Wissens nach Wien, nahm einen anderen Job an. Seine Mutter musste in psychiatrische Behandlung, was ich hörte. Die Wahrheit hatte sie mental völlig geknickt. Was aus der jungen Frau wurde, weiß ich nicht genau. Aber was ich sicher sagen kann: sie hat das gemeinsame Kind behalten… Es soll sogar gesund geboren worden sein.“ Albert wirkte schließlich sehr betroffen auf mich. „Schlimme Sache. So ein unglückliches Zusammentreffen ist ein Albtraum….“ Er schwieg kurz, um dann nachzusetzen. „Und so was kann wohl ein Leben nachhaltig zerstören… oder auch mehrere.“
© Vivienne