Der 1. März. Ein ganz gewöhnlicher Alltag im Jahre 2013. Zwei Alte gehen Hand in Hand über die Wald- und Feldwege. Nasskälte. Wind im Gesicht. Matsch. Geschmolzener Schnee. Ab und zu der Ruf einer wilden Taube. Er trägt eine Sonnenbrille. Wegen der tränenden Augen. Sie hat rote Wangen und ein lachendes Gesicht. Wie jung sie aussieht, denkt der Alte. Manche tippen ihr Alter nicht über 55. Sie bemerken nicht jene acht Jahre, die da noch draufzuschlagen wären. Ja, sie lachen, sie drücken sich, sie purzeln über Stock und Stein, ausgelassen wie Kinder. Ja, sie haben eine glückliche Zeit hinter sich, unangefochten von gesellschaftlichen Unstimmigkeiten, besonders heute, im Jahre 2013.
Doch mitunter schweigt der Alte, dessen grau meliertes Haar noch nicht auf seine 76 Jahre schließen lässt. Bilder aus der Vergangenheit steigen in ihm hoch. Die vielen Dienstorte, (Plauen i.V., Eggesin, Potsdam, Neubrandenburg), die zahlreichen Umzüge, die Truppenübungsplätze, die Nächte in freier Natur bei Wind und Wetter. Und als Ausbilder und Militärjournalist in 32 Dienstjahren – bewaffnet mit Schreibblock und Bleistift – die tausende Gespräche mit klugen und weniger klugen Menschen in der Uniform der Nationalen Volksarmee. Eine entschwundene Zeit, die viel Nachdenklichkeit und Tatkraft erfordert hat. Und die ihre Erben sucht in neuen Zeiten der bedrohlichen Unbedenklichkeiten.
Achtung, eine Pfütze, ruft die Frau – im Buch „In die Stille gerettet“ als Cleo bezeichnet – ihrem Mann zu. Sie sorgt sich um ihn. Sie wolle ihn wieder rauskratzen, hatte sie gedroht, falls er vorzeitig in die Grube fahren sollte. Und wenn? Was wäre von ihm übrig? Er war sehr lieb zu seiner Lieben. Aber auch komisch. Hatte lauter Ideen im Kopf und Spinnereien, möglicherweise zum Verdruss mancher Gesprächspartner. Immer fand er etwas zum Sticheln, die große Weltpolitik betreffend, obwohl er mit kleinsten Dingen zufrieden sein konnte. Hatte er ein Opfer gefunden, so ließ er es nicht so schnell wieder los. Ja, es passierte, dass er seinen Gesprächspartner sogar – peinlich, peinlich – am Ärmel packt, um so seinen Ausführungen Nachdruck zu verleihen.
Der Weg führt am Feldrand entlang. Man hat einen weiten Blick bis zum Horizont. Beide zockeln bei jeder Jahreszeit hier vorbei. Mal ist das Feld gelb-grün, voller Raps, mal weizengelb, mal braungrau im Herbst, mal weißgrau voller Schnee. Überhaupt, so finden die zwei n Leutchen, sieht die Landschaft immer wieder anders aus. Da gibt es bei jeder Wanderung Neues zu entdecken, mal einen Fasan, mal Schirmpilze, mal einen verkrüppelten Baum, mal die Luft, die besonders in den goldenen Herbsttagen nach Moder duftet, nach Vergangenem.
Der in die Jahre gekommene Mann und seine viel jünger aussehende Frau erfreuen sich guter Gesundheit (kleine Zipperlein nicht mitgerechnet) und genießen jeden Tag, da sie noch zusammen sein können. Manchmal erblickt er interessante Motive, um sie zu Hause mit dem Pinsel in Gemälde zu verwandeln. Sie hat mehr Freude an schöner Architektur in der Wald- und Gartenstadt, in der sie wohnen und an Wanderungen am nahegelegenen großen Müggelsee. Auch an einer Tasse Kaffee in einer Gaststätte, die damals zu DDR-Zeiten noch ein Pinkelhäuschen war.
Allerdings: Die beiden Glücklichen bezeichnen sich als komisch, mehr noch, sie leben hinter dem Mond. Das Auto haben sie abgeschafft. Lieber gehen sie zu Fuß. Neueste technische Geräte, z.B. für die Küche, sind ihnen zuwider. Erst nach langem Zögern lassen sie sich von ihren Kindern zu seinem und ihrem Geburtstag einen großen Flachfernseher schenken. (Auch wegen der besseren Tonqualität für den Vater, der stets eine Hand ans Ohr legen muss, um klarer zu verstehen.)
Was aber soll man mit einem größeren Bildschirm anfangen, der medienbedingte Belanglosigkeiten in einem nun noch größeren Format in die schon fast leeren Köpfe hämmert? Der Alte denkt mit Grausen an die Jubelfeiern am 9. November 2009 letztlich am Brandenburger Tor. Die Massen verströmen Freude und Genugtuung über ein vermeintlich besiegtes altes Regim. Wer verstünde sie nicht? Ihre Gefühle, ihre, die ungenügend befriedigt werden konnten? Sind sie glücklich? Und wie lange? Der Sog des Geldes ist allmächtig. Wenn dabei die Würde der Menschen hopps geht – wen interessiert das schon? In welches Nest sie sich gesetzt haben, wo die Angst um die Arbeitsplätze millionenfach die echten und die angeblichen „Ängste“ vor der „Stasi“ übersteigt.
Den Mann plagt eigentlich unnütze Nachdenklichkeit. Nichts lässt er an sich heran, was an Lügen und Verdrehungen von den Medien in die Massen geschleudert wird. Keine Zeitung hat er bestellt, kein Fernsehprogramm, dass nicht auf halbwegs Vernünftiges vorher abgesucht wird. Von teuren Theaterbesuchen ganz zu schweigen, die, hört man die Kommentare im rbb Kultur, nur so strotzen von formalistischer Dekadenz. Ohne Inhalt!! Dafür ist ihm und seiner Frau die Zeit zu schade. Basta. Trotzdem: Tausende, die nach der Implosion der DDR inzwischen Sehender geworden sind. Eine geballte Kraft haben sich die von „Drüben“ eingehandelt, die mehrheitlich noch zufrieden und selbstzufrieden den Mund hält, weil sie glaubt, es liege an ihr, wenn sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt ist. Aber wehe, die Leute mucken irgendwann auf. Dann kann der Teufel los sein, dann könnten neue Mauern zwischen denen da oben und denen da unten gestürmt werden. Und keiner wüsste, ob dies so ohne Gewalt passieren würde. Der Virus, die Vision einer humaneren Gesellschaft, ist doch längst nicht vom runden Tisch. Dieser Menschheitstraum ist doch nicht am Ende. Da liefert die DDR den Marktanbetern nicht nur Fluchtbesessene, sondern auch Menschen, die gelernt haben, dem Ungemach zu widerstehen. Die nicht Stille halten würden, wenn es ihnen zu bunt wird.
Aber noch kann er beruhigt schlafen, der Alte. Es gibt die einen, die mit allem zufrieden sind, die total Angepassten, die Arbeit haben und von keiner Veränderung etwas hören wollen. Und dann gibt es die, die kaum zu Wort kommen, die sich grämen, dass die großartige Idee flöten gegangen ist. Vorläufig!! Die in ihren Wohnungen oder Gärten sitzen und überlegen, wie sie über die Runden kommen sollen. Und diejenigen, die die Hoffnung nicht aufgegeben haben, dass nach ihrem Weggang in die ewige Grube wieder eine neue Idee geboren werden könnte. Noch stört Niemanden ein linkes Denken. Nur – Angst davor haben sie allemal. Da lauert eine latente Gefahr. Es brodelt im Unterholz, wenn man genau hinhört. Jubelfeiern können das nicht überdecken. Ein Begräbnis alter Ideale sollten sie darstellen. Doch diese „Toten“ sind imstande, wieder aufzustehen. Und: Blieben die Visionen doch nur bei den Toten… Der Virus ergreift auch die Jüngeren. Dagegen gibt es keinen Impfstoff. Eine englische Studie, Befragung in 27 europäischen Ländern, ergab, dass 87 Prozent der Menschen sich eine andere, humanere Gesellschaftsordnung vorstellen können.
Mitunter kommt er ins Grübeln. Oh, was hat sich der kapitalistische Teil Deutschlands 1989 nur ins Nest gesetzt! Man schämt sich regelrecht, undankbar zu sein. Da ist man schon froh, glückliche Menschen anzutreffen, die „endlich“ reisen dürfen soviel und wohin sie wollen, die Bananen essen können, soviel sie wollen, die auf den Staat schimpfen können, was das Zeug hält und niemand schwärzt sie an. Brave Bürger umgeben den Staat und zucken nur zusammen, wenn das Geld knapp wird. Selbst dann nicht oder kaum gehen sie auf die Straße. (Wie toll z.B. die Proteste gegen Fluglärm und Müggelseeüberflüge, siehe Schönefeld…)
Was braucht eigentlich ein Mensch, um glücklich zu sein? Natürlich Arbeit, Brot, ein gutes Zuhause und eine gesundheitliche Pflege, die unabhängig vom Geldbeutel in Anspruch genommen werden kann. Vor Jahren hat er Tolstois Geschichte „Wie viel Erde braucht der Mensch“ gelesen…
Doch es gibt auch die anderen, die etwas Besseres als den Rückfall in die alte Ordnung der Marktanbeter angestrebt und gewollt hätten. Und die den Glauben an mehr Menschlichkeit in der Gesellschaft nicht verloren haben. Zu ihnen zählt sich auch der wandernde Alte mit seiner Frau. Ja, man kann sagen, sie und Millionen anderer Ostler haben in sich einen Reichtum angehäuft, den man nur in einer Gesellschaft erlangen kann, die nicht so sehr vom Geld getrieben ist, wo noch ganz andere Werte eine Rolle spielten.
Der Alte las einmal im „GEO“-Heft vom Juli 1998 einen interessanten Artikel unter der Überschrift: „Die neue Askete, zurück zu den Wurzeln“. Da steht: „Die Schimmoellers wohnen seit sechs Jahren im Nirgendwo hinter den Hügeln, wo die Spechte trommeln. Ihre aus 91 Zedern selbstgezimmerte Blockhütte würden sie um nichts in der Welt gegen eine Luxusvilla eintauschen. ,Dinge, Dinge, Dinge – wozu brauchen die Leute bloß all die Dinge?‘, poltert Charlie.“
Nein, seine Frau und er sind keine Aussteiger. Sie lieben gemäßigten bezahlbaren Komfort. Im besagten Artikel verweisen die Autoren weiter auf die Schattenseiten der zweiten industriellen Revolution, die von Mikrochips und dem allmächtigen Dollar angetrieben wird, auf Egoismus, Orientierungslosigkeit und Naturschwund. Die beiden Alten dagegen genießen das einfache und gute Leben, weil es die Menschen reicher, stressfrei und fröhlich macht. Jedoch: Im falschen System das Richtige tun – das ist auch eine Kunst. Auch eine Form des Egoismus. Na und? Den haben haben sie schließlich verdient. Ob man es wahrhaben will oder nicht: Die beiden Alten – und nicht nur sie – haben aus der Vergangenheit ein Erbe mitbekommen, das sie reich macht an innerem Glück und dickhäutig gegenüber manchen Anfechtungen des Zeitgeistes.
Während der Blick der zwei Alten immer wieder über die weiten Felder streicht, sucht der Maler in ihm neue Motive. Die muss er entdecken, sie fliegen einem nicht zu, sie muss man suchen, was heißt, die Augen offen zu halten und den Grips in Bereitschaft. Er bleibt ein Suchender auch im Gesellschaftlichen. Denkt er an die „Jubelfeiern“ zur Wiedervereinigung zurück, dann übersieht er nicht den Triumph in den glänzenden Augen der Obrigkeit, die glauben, den Fortschritt in eine Welt ohne Gier nach Maximalprofit endgültig begraben zu haben. Seit dem Kommunistischen Manifest, spätestens seitdem, sind die Geldsäcke immer wieder in die Mangel genommen worden, seit 1917 sogar in die Zange. Und nun? 2013? Sie glauben sich befreit von jeglichem Linksruck, haben aber große Angst vor einer Wiederbelebung, vor einem Dacapo der Geschichte. Mehr noch: Sie rächen sich. Sie sind drauf und dran, den Totgeglaubten noch einen Tritt zu versetzen.
Beide schlendern langsam nach Hause. Sie verlassen Wald, Feld und gute Wege. Bis Morgen! Und kommen am „Griechen“, einer nahegelegenen Gaststätte, vorbei. „He, kommt mal ran“, rufen mitunter Kellnerin und Kellner. Auf dem Tablett zwei griechische Schnäpse Uso. Prost!
Harry Popow