Elisabeth war die einzige Puppe, die sich für die Rolle der Mutter eignete. Sie war etwas größer als die anderen und ihr dunkelbraunes Haar war gerade lang genug, um es im Nacken zu einem Dutt zu stecken. Constanze hatte eine halbe Stunde Elisabeths Haare gebürstet und vorsichtig kleine Knoten gelöst. Nun steckte sie die letzten losen Haare mit den goldfarbenen Spangen fest, die sie sich von ihrer Tante zu Weihnachten gewünscht hatte. Jetzt brauchte Elisabeth nur noch eine Schürze, damit sie ihr schönes grünes Blusenkleid nicht beim Kochen dreckig machte. Elisabeth besaß zwei Schürzen, eine weiße und eine geblümte. Die weiße Schürze hatte Spitzenrüschen, die geblümte eine kleine aufgenähte Tasche. Constanze griff nach der geblümten, denn es war ein sonniger Frühlingstag und die kleinen roten Blümchen passten gut zu einem solchen Tag.
Constanze stellte Elisabeth vor die Fußbank, die als Herd diente. Die Fußbank wurde ohnehin nie benutzt und stand nur unter dem ledernen Ohrensessel rum. Elisabeth begann gleich zu kochen, denn bald schon käme ihre kleine Tochter heim. Sie bereitete Frikadellen mit Kartoffelbrei zu und natürlich auch ein bisschen Salat wegen der Vitamine.
Dann kam Annemarie von der Schule nach Hause. Sechs Stunden hatte sie heute gehabt. Das war ziemlich viel, aber Annemarie lernte gern. Elisabeth war sehr stolz auf ihre kluge Tochter, die so hübsch aussah mit den zwei langen blonden Zöpfen, die Constanze ihr geflochten hatte. Constanze setzte Annemarie auf den Stuhl, aber Elisabeth sagte streng: „Erst die Hände waschen, gleich gibt es Essen“. Und so ließ Constanze Annemarie im Badezimmer, das unter dem Couchtisch war, die Hände waschen.
Früher hatte Annemarie einen anderen Namen gehabt. Arabella, weil Constanze Arabella für einen fantastischen Namen für ein Mädchen hielt. Es klang für sie nach einer Prinzessin, die eigene Pferde und wunderschöne Kleider hat und die auf Bälle eingeladen wird. Aber als ihr Vater ihr beim Spielen zugesehen hatte, hatte er gesagt, Arabella sei ein Dirnenname. Am nächsten Tag hatte sie ihre Mutter gefragt, was eine Dirne sei, und ihre Mutter hatte geantwortet: „Eine Dirne ist eine unanständige Frau.“ Constanze hatte keine klare Vorstellung von einer unanständigen Frau gehabt, aber ihre Mutter hatte einen tadelnden Gesichtsausdruck aufgelegt, so als ob schon die erste Frage nicht in Ordnung gewesen war. Also fragte Constanze nicht weiter und dachte sich dann, dass unanständige Frauen nicht aufräumen oder dass sie laut fluchen. Sie wollte nicht, dass ihre schönste Puppe den Namen einer unanständigen Frau trug, deshalb hatte sie auf ihre Mutter gehört, die gesagt hatte: „Nenn sie doch Annemarie, wie deine Tante Annemarie, das fängt auch mit A an.“
Annemarie gefiel ihr nicht ganz so gut, aber da Constanze gerade keine bessere Idee gehabt hatte und die Puppe einen Namen brauchte, blieb es bei Annemarie.
Elisabeth legte nun die Schürze ab, deckte den Tisch und setzte sich mit Annemarie, die gerade aus dem Badezimmer kam, zum Mittagessen hin. Sie aßen Frikadellen, Kartoffelbrei und Salat. Annemarie erzählte munter, dass sie das einzige fehlerfreie Diktat in der ganzen Klasse gehabt hatte.
Elisabeth war sehr stolz. Annemarie war ein gutes Kind. Sie spielte manchmal etwas wild, wobei sie sich schmutzig machte. Dann musste Elisabeth sie ausschimpfen und Annemarie musste zur Strafe eine Stunde früher ins Bett. Aber ansonsten war Annemarie brav und brachte gute Noten nach Hause.
„Krieg ich mal die hübsche Puppe?“ Constanzes kleine Schwester Rebekka guckte zur Wohnzimmertür herein.
„Nein, kriegst du nicht. Ich spiel grad damit. Außerdem ist das meine Puppe. Du hast selbst welche.“
Constanze schaute Rebekka streng an und wandte sich wieder ihrem Spiel zu.
„Aber nicht so schöne!“
Rebekkas Tonfall wurde bettelnd und sie schlich näher an Constanze heran.
„Selbst schuld, wenn du ihnen die Haare schneidest und sie anmalst.“
Constanze zupfte an Elisabeths Hochsteckfrisur herum.
„Ich hab sie nicht angemalt, nur geschminkt.“ Rebekka stand jetzt direkt neben Constanze.
„Mit Filzstiften kann man nicht schminken, das weiß jedes Kindergartenkind.“
„Lass mich mitspielen!“
Rebekka fing an, auf der Stelle zu hüpfen.
„Dafür bist du noch zu klein!“
Constanze führte Elisabeth in die Küche, wo diese das Geschirr zu spülen begann. Annemarie saß noch am Tisch.
„Bin ich gar nich. Bitte, Conny!“
Rebekka klang jetzt quengelig.
„Ich heiß nicht Conny. Und du bist noch zu klein.“ Constanze setzte Annemarie an die kleine Kiste, auf der sie die Hausaufgaben machen sollte.
„Bin ich gar nicht. Du spielst eh voll langweilig. Ich kann das besser!“
Blitzschnell schnappte Rebekka sich Annemarie, packte sie um den Bauch und ließ sie durch den Raum hüpfen, während sie dazu laut buff buff buff schrie. Constanze sprang auf und rannte Rebekka hinterher. Sie stieß sich dabei das Bein an der Ecke des Couchtischs, rannte weiter, bekam aber Rebekka immer nur kurz zu fassen, bevor sich diese, klein und flink wie sie war, wieder aus ihrem Griff winden konnte.
Constanze blieb stehen und fing an zu schreien: „So spielt man nicht, gib sie her, gib sie endlich zurück! Du bist so doof! Du bist voll kindisch! Das ist meine Puppe!“
Und als das bei der wild herumhüpfenden Rebekka keine Wirkung zeigte: „Mama, Maaamaaa!“
Die Mutter rannte aus der Küche herbei, griff nach der vorbeirennenden Rebekka, riss sie zu sich und nahm ihr die Puppe weg: „Immer eure Streiterei. Rebekka, benimm dich! Das Wohnzimmer ist kein Spielplatz. Und geht beide Hände waschen, es gibt gleich Abendessen.“
Sie gab Constanze die Puppe zurück, ging kopfschüttelnd in die Küche und begann, das Abendessen anzurichten. Rebekkas Kinn zitterte. Sie blickte sich wild im Zimmer um, als ob sie etwas suchte, was sie sich als nächstes nehmen könnte.
Die Tür des Wohnzimmers öffnete sich und der Vater stand in der Tür, noch mit der Aktentasche in der Hand: „Kann man nicht EINMAL Ruhe haben, wenn man nach Hause kommt? Ich hab euch schon vor der Haustür gehört! Wo sind wir denn? So ein Theater.“ Der Vater hatte nicht einmal den Mantel aufgehängt, was er sonst immer schon im Flur tat.
Die Mutter legte die Schürze ab, hängte sie an den Haken in der Küche und nahm ihm den Mantel ab. Schnell entschuldigte sie sich für die Kinder, die heute so wild seien, vor allem Rebekka. „Vielleicht ist das der Frühlings-Hafer, der sie sticht“, scherzte sie zaghaft.
Rebekka starrte wie hypnotisiert in tiefster kindlicher Verzweiflung auf die blonde Puppe in Constanzes Hand und begann schrill zu schreien: „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“
Scheiße sagt man nicht, dachte Constanze.
„Scheiße sagt man nicht!“, rügte die Mutter streng.
„Dein kleines Schandmaul reicht mir langsam“, schrie der Vater. Sein Gesicht war rot geworden und die Adern an seinen Schläfen schwollen an.
Die Mutter berührte seinen Arm und murmelte beruhigend: „Arnulf, komm, lass uns erst mal essen.“
Aber der Vater schüttelte ihre Hand ab und warf seine Aktentasche auf den Sessel. Mit einem schweren Plopp landete sie auf dem Polster.
Mit Constanze hatte das nichts zu tun. Sie begann, die Puppen ordentlich in die Spielkiste zu packen. Jede hatte ihren Platz. Annemaries linker Zopf war durch Rebekkas buff buff buff aufgegangen, aber morgen war Samstag, da hatte sie genug Zeit, um ihr in Ruhe neue Zöpfe zu flechten, vielleicht sogar einen französischen Zopf, obwohl das schwerer war als zwei normale.
„Rebekka, geh dir jetzt die Hände waschen und sei brav.“ Die Mutter versuchte ruhig mit Rebekka zu sprechen, obwohl man ihr die Anspannung anhörte. Rebekka stand mitten im Wohnzimmer, hatte ihre Hände zu kleinen Fäusten geballt und funkelte ihre Eltern böse an: „Leck mich am Arsch!“ Das Wort Arsch kreischte sie so laut, dass es noch Sekunden danach durch den Raum zu hallen schien.
Die Mutter starrte sie entsetzt an: „Rebekka, wo hast du sowas her? Sowas darfst du nicht sagen!“
Der Vater hatte nun einen richtig roten Kopf: „Jetzt reicht’s, junge Dame, du wirst noch lernen, wie man sich benimmt!“
Er packte die schreiende Rebekka und zog sie hinter sich her aus dem Wohnzimmer in den Flur. Die Mutter schaute beiden hinterher, zögerte kurz, ging dann aber doch zurück in die Küche. Sie zog die Schürze wieder an und sah nach dem Essen.
Das Essen roch gut. Constanze packte das Puppengeschirr in die kleine rosa Kiste, legte diese in die Spielkiste und schloss den Deckel. Dann ging sie ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen, obwohl sie sie erst vor 15 Minuten gewaschen hatte, als sie auf dem Klo gewesen war. Während sie sich die Hände einseifte, schön auch zwischen den Fingern, hörte sie Rebekkas Schreie aus dem Kinderzimmer, in das der Vater sie gebracht hatte. Und klatsch klatsch klatsch, bis der Po rosarot ist, damit sie auch begreift, was sie falsch gemacht hat. Denn Scheiße darf man nicht sagen und das andere erst recht nicht, besonders nicht zu den Eltern, das wusste Constanze. Selbst schuld, wenn es jetzt weh tut und du weinen musst, dachte sie, und sie hörte klatsch klatsch klatsch, immer wieder, immer lauter. Constanze rubbelte schnell die letzten Seifenreste unter dem Wasser ab, trocknete sich die Hände ab, ging ins Esszimmer und setzte sich an den Tisch.
Die Mutter steckte sich gerade eine lose Haarsträhne fest, die sich gelöst hatte, als sie Rebekka eingefangen hatte, und sagte zu Constanze: „Wir fangen aber erst an, wenn der Papa fertig ist. Möchtest du Milch oder Wasser trinken?“
„Wasser“, antwortete Constanze und wartete ungeduldig auf den Vater. Das Essen stand schon auf dem Tisch, mit Warmhaltehauben, damit es nicht kalt wurde, bevor der Vater kam. Trotzdem kam ein wenig Duft unter den Hauben hervor und Constanze freute sich aufs Essen.
Als der Vater nach ein paar Minuten kam, war sein Kopf immer noch rot, aber er sagte mit ganz ruhiger Stimme zu der Mutter: „Tu mir mal ne ordentliche Portion auf, ich hatte einen harten Tag.“
Er hielt ihr den Teller hin und die Mutter legte ihm das größte Kotelett und reichlich Beilagen auf den Teller. Und dann aßen sie Kotelett mit Kartoffeln und Soße und mit grünen Bohnen wegen der Vitamine.