2. Kapitel: Zu spät

In diesen Scheiß-Provinzstädten musste man höllisch aufpassen mit dem Schwarzfahren. Rebekka stand unentschlossen an der Bushaltestelle und wippte auf den Zehen auf und ab. In Berlin, wo sie gewohnt hatte, war das kein Problem. Keiner kannte dich, keiner verdächtigte dich. Sie hatte immer Glück gehabt, nie war sie erwischt worden. Aber hier in diesem auf Stadtgröße aufgeblasenen Kaff kannten die Busfahrer dich nach einiger Zeit. Wenn du erstmal als Schwarzfahrer bekannt warst, hatten sie dich gleich wieder am Wickel. Der fetteste, älteste Busfahrer stand dann auf und kam zu deinem Sitz, wenn du hinten eingestiegen warst. Wahrscheinlich haben sie sonst schon jeden Kampf in ihrem Leben aufgegeben, aber bei sowas regen sich auf einmal ihre Lebensgeister und sie spielen sich als Sheriff auf. Rebekka war jetzt schon zweimal erwischt worden. Beim zweiten Mal musste sie sich die 60 Euro bei ihrem Nachbarn leihen, einem etwas schmierigen Alt-68er, der sie seitdem ständig mal zu ner Tasse Tee einladen wollte. So ganz ohne Gegenleistung ging das also wohl nicht.

Scheiße. Rebekka starrte auf ihre Schuhe. Die Sohle ihres linken Schnürstiefels hatte begonnen sich abzulösen. Sie hatte zu Hause nur noch einen Pritt-Stift gehabt und sie bezweifelte, dass diese Behelfslösung lange halten würde. Besser wäre ein gescheites breites Klebeband, selbst ein Tesa-Streifen wäre besser als das. Aber man muss nehmen, was man hat. Würde schon halten.

Wenn sie sich für Schwarzfahren entschied und wieder erwischt wurde, müsste sie ihre Eltern anpumpen. Oder wanderte man beim dritten Mal in den Bau? Betrugsdelikt oder so? Keine Ahnung. Wenn die Entscheidung auf Laufen fiel, wären das mindestens 40 Minuten zu Fuß unterwegs. Sofern der Stiefel hielt. Typisch Constanze, lebt am Arsch der Welt, in einer Neubausiedlung am Stadtrand, in der ein Haus wie das andere aussieht.

Rebekka begann loszugehen, versuchte sich bei Laune zu halten und nicht an die Verspätung zu denken, mit der sie zum Familienessen erscheinen würde.

Ja, genau, ich hatte kein Geld für den Bus. Ich weiß, ihr könnt mir nicht ständig was leihen. Ich will ja auch gar nix. Keine Sorge.

Ein Schritt nach dem andern. Ein Hut, ein Stock, ein Schirm. Gewitter, Arsch und Zwirn. Nicht auf die Ritzen treten, das bringt Unglück.

Drei Kilometer sind gar nix. Oder sind es vier? Fünf? Was soll’s, wenn ich zum Essen zu spät komme. Vielleicht fällt dann die Consommé aus. Mensch, Mutti, das is auch nur ne olle Brühe.

Ich komm erst zum Hauptgang, das habt ihr scharf bemerkt.

Ja Thomas, Constanze hat sich sooo viel Mühe mit dem Essen gemacht. Ich weiß einfach nichts zu schätzen, is klar. Im Gegensatz zu euch.

Warum ruf ich nicht an? Genau, kein Geld mehr aufm Handy. Is ja klar, ich weiß. Ja, Mutti, Notruf geht noch. Ja, Conny, du hast nen Vertrag mit Flatrate. Warum hab ich sowas nicht? Keine Ahnung, hab mich noch nicht drum gekümmert.

Ein Hut, ein Stock, ein Schirm. Gewitter, Arsch und Zwirn. Und niemals auf die Ritzen treten. Ein Hut, ein Stock, ein Schirm. Gewitter, Arsch und Zwirn, ich komm erst später. Ja, Vati, hast du gehört, Arsch sage ich. So oft ich will, sage ich Arsch. Und du kannst mir nicht verbieten, Arsch zu sagen. Ein Arsch, ein Arsch, ein Arsch. Und niemals auf die Ritzen treten. Mehr Unglück kann ich nicht gebrauchen.

Rebekka ging weiter und starrte bei jedem Schritt auf ihren linken Fuß und beobachtete, ob die Sohle hielt.

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