Thomas kam mit einer kleinen Tüte mit den Kindersöckchen in der Hand und Stefan auf seinem Arm in die Damenabteilung. Maria stürmte aufgeregt auf ihn zu: „Sie ist weg.“
„Wie, weg? Seit wann?“
„Ich war nur kurz in der Umkleidekabine, und als ich rauskam, war sie nicht mehr da.“
Thomas drückte seiner aufgeregten Schwiegermutter Stefan in den Arm. „Du schaust hier im Kaufhaus, ich suche draußen. Mir ist sie letztens auch weggelaufen. Da waren ihr die Leute zu viel und sie hat anscheinend nach weniger Trubel gesucht. Hast du dein Handy dabei?“
Maria nickte.
„Sobald einer von uns sie gefunden hat, ruft er den andern an.“ Maria schluchzte einmal kurz auf, Stefan schaute sie verwirrt an. „Wenn sie sich jetzt was antut, Thomas. Sollen wir die Polizei rufen?“ „Ich renne erst mal die Fußgängerzone ab, so lang ist die ja nicht.“ Er lief los. Beim Ausgang stand ein kleiner Pulk aufgeregter Frauen, die er aber nicht weiter beachtete.
Thomas lief ein paar Meter, dann wurde ihm klar, dass Constanze nicht hier in der Fußgängerzone inmitten der vielen Menschen geblieben wäre. So ging er also in die erste Seitenstraße, die hinter dem Geschäft abbog und rannte bis zur nächsten Kreuzung. Zur Rechten zog sich eine weitere Seitenstraße hin, die etwas länger war. An deren Ende sah Thomas Constanze laufen, gerade bog sie um die Ecke in eine andere Gasse. Thomas sprintete ihr hinterher und passte sie in der ruhigeren Gasse ab. Er fasste sie an der Schulter, sie drehte sich um und lächelte ihn an. Vor sich her schob sie einen Kinderwagen, in dem ein kleines Mädchen mit rosa Strampler fröhlich vor sich hingluckste.
Thomas erstarrte. Er schaute Constanze an, die ihn anlächelte und dann voller Rührung auf das Kind hinunterblickte. Auch Thomas schaute hinunter auf das fremde Kind und Constanzes Hände, die auf dem Griff des Kinderwagens lagen. Er schien etwas sagen zu wollen. Aber dann blickte er sich einfach um und nahm ihr den Kinderwagen ab. Constanze wehrte sich kurz, ging dann aber neben ihm her, als ob sie eine normale Familie wären, während Thomas den Wagen schob. Sie liefen durch die Seitenstraßen, wobei Thomas die Nähe zur Fußgängerzone mied.
Als sie an der Matthäuskirche vorbei kamen, hielt er an. Er zog sein Taschentuch heraus und wischte damit die Griffe und Metallteile des Wagens ab. Er packte Constanze so fest am Arm, dass sie ihr Gesicht verzog. Dann ließ er den Wagen stehen. Sie wollte noch nach dem Kinderwagen greifen, aber Thomas zog sie unerbittlich weiter und Constanze folgte. Sie verschwanden hinter der nächsten Ecke. Auf den ersten Metern wehrte sich Constanze noch stumm, dann erlosch ihr Widerstand. Sie trottete gehorsam und mit leerem Blick neben Thomas her. Thomas rief Maria an und bestellte sie zum Parkplatz des Autos. Dann liefen Constanze und Thomas schweigend auf Umwegen zum Parkhaus.
Ebenso schweigend brachten sie die Heimfahrt hinter sich. Nur Stefan plapperte unruhig vor sich hin. Maria wollte Erklärungen, aber Thomas vertröstete sie: „Wenn wir zu Hause sind.“
Zu Hause angekommen brachte er Constanze ins Schlafzimmer. Sagte: „Leg dich ein bisschen hin.“ Constanze gehorchte. Maria brachte Stefan zum Mittagsschlaf ins Bettchen. Dann trafen sie sich im Wohnzimmer und Thomas erklärte ihr, was passiert war. Maria hatte bis jetzt nie geweint. Jetzt weinte sie. Wie jemand, der die Schrecken nicht glauben kann, die er sieht.
Die Familie verfolgte die Nachrichten. Sie hatten Glück gehabt. Es waren viele Katastrophen passiert an diesem Tag. Ein Flugzeugabsturz am anderen Ende der Welt. Ein internationaler Wirtschaftsgipfel mit heftigen Auseinandersetzungen. Ein Serienmörder war gefasst worden.
Nur in den Regionalnachrichten im Radio und in der Zeitung hatte die Geschichte einen Platz gefunden, denn alles war gut ausgegangen. Und für gute Nachrichten war neben den schrecklichen und spektakulären Nachrichten nicht mehr genug Platz.
Alles war gut ausgegangen. Der Pfarrer hatte den Kinderwagen gefunden und die Polizei angerufen. Die hatte schon den Notruf der Mutter des Kindes erhalten und informierte diese sofort. Nach nur einer Stunde waren Mutter und Kind wieder vereint. Das Kind war wohlauf.
Die Polizei suchte Zeugen, aber niemandem war etwas aufgefallen. Alle waren zu sehr mit ihren Erledigungen beschäftigt gewesen. Spuren gab es keine.
Und da alles gut ausgegangen war, sprach nach drei Tagen niemand mehr darüber. Die Angst der Familie legte sich.