Es war ein nebliger Nachmittag im Spätwinter. Oder Frühfrühling. Irgendwas im Februar oder März. Einer dieser zahlreichen grauen Tage, die alles außer Sommer sind und die jeder Berliner zu gut kennt.
An diesem Tag kam sie rein. Mit einer Kippe im Mund, zwei selbstständigen lockigen Strähnen, die hinter ihrem Zopf frei hingen, drei Bierflaschen in einem alten Jutebeutel von Aldi, der an ihrem rechten knochigen Arm hing, einem anarchistischen Schritt, einem Glas mit Sonnenschein in ihrer linken Hand, und einem breiten Lächeln, das mich neugierig aus der Zahnlücke zwischen den zwei vorderen Zähnen beobachtete.
Sie kam rein. Ohne zu klopfen. Ohne zu klingen. Ohne zu fragen. Sie hat einfach die Tür meines Alltags eingetreten, den ich seit Jahren nicht mehr verlassen habe.
„Endlich mal bin ich wieder bei dir! Ich habe dich vermisst, mein Freund. Prost!“ – hat sie laut gelacht und gleich zwei Pilsner aus ihrem Beutel rausgeholt.
Ich saß auf der Couch vor meinem Laptop und einem nachmittäglichen Aschenbecher voller ausgerauchten Gedanken, arbeitete am nächsten Artikel, kurz vor dem Redaktionsschluss, und konnte nicht fassen was grad passiert ist. In solchen Situationen, wo das einzige, was man verstehen kann, ist das Bier, das da steht, bleibt einem nichts anders übrig, als die Flasche zu öffnen.
„Prost“ – habe ich kurz erwidert, durstig einen Schluck getrunken und zu meinem Artikel zurückgekehrt.
„Was machst du da? Du scheinst besorgt zu sein.“ – hat sie neugierig auf meinen Bildschirm geguckt.
„Ich suche nach einem passenden Schluss.“ Ihrе Neugier hatte was Sympathisches an sich. Bisher hat sich keiner dafür interessiert, wie meine Artikel entstanden waren. Das Wichtige war immer, dass die in der Zeitung reinpassen und im Einklang mit der Redaktionslinie bleiben. Der Prozess war egal. Das Produkt war das Wichtigste. So wie überall.
„Jeder Schluss kann doch passend sein. Schluss ist letztendlich nichts mehr als ein Schluss. Höre einfach auf deine Gedanken. Schau dich mal an – sie sind alle zu Asche geworden. Kannst du mir übrigens den Aschenbecher reichen?“ Sie hat ihre Kippe da gelöscht und gleich aus ihrer linken Tasche die Zigarettenschachtel rausgeholt und eine neue Zigarette angezündet. „Willst du auch eine?“ – hat sie mich gefragt. Ich hab kurz genickt. Gefühlt habe ich seit dem Sommer 2014 nicht mehr geraucht, als ich dann am Entwurf einer Reportage über Hochschulpolitik wochenlang gearbeitet habe, die danach die Redaktion für paar Sekunden ganz verworfen hat. Meine Arbeit war damals ihnen zu kritisch. Genauso wie ich zwei Jahre später mein Studium abgebrochen habe, dem ich fünf Jahre meines Lebens gewidmet hatte. Es war mir zu unkritisch, würde ich sagen. Das ist aber eine andere Geschichte.
Das war die erste Zigarette, die ich seit drei Jahren angezündet habe. Ich verschwand langsam in einer Wolke aus Zigarettenrauch, Erinnerungen, Wortspielen, Freude, Nostalgie, Nebel, wieder Nostalgie, wieder Freude, Herbst, Frühling, Sommer, Winter. Sie beobachtete mich ruhig, dann fing sie plötzlich an zu lachen: „Ich suche den passenden Schluss…. Ich habe schon den passenden Schluss für dich gefunden, mein Freund. Die Zeit, die du auf der Suche nach einem Schluss verschwindest, kannst du lieber in der Suche nach einer Einleitung in dein Leben investieren. Ich bin dabei. Ich helfe dir gerne.“ – hat sie gesagt und eine Symphonie aus Lachen, Wind und Optimismus laut ausgerülpst.
Ich starrte sie an. Ihr Lächeln hinter der vorderen Zahnlücke strahlte eine ungewöhnliche Leichtigkeit aus, die plötzlich meine Gedanken wieder angezündet hat. Sie sind langsam aus dem Aschenbecher wiedergeboren, haben die Gestalt einer Flamme bekommen, die mein Herz in Brandt setzte.
Eine Mischung aus Wut, Motivation, Mut, Ideen, Selbstbewusstsein, Lebenslust und Farben hat mich überwältigt. „Willkommen zurück“ – hat sie mit ihrem breiten Lächeln gesagt und den Glass mit dem Sonnenschein geöffnet. Plötzlich schwamm mein Zimmer im Sonnenlicht und wir beide verschwanden irgendwo drin.
Ich habe sie zuletzt an der Wohnungstür meines Alltags gesehen.
Und sie ging danach raus. Ohne tschüss zu sagen. Ohne ihre Telefonnummer zu hinterlassen. Ohne sich zu verabschieden.
Sie ging raus. Mit zwei selbstständigen lockigen Strähnen, die hinter ihrem Zopf frei hingen, drei Pfandflaschen in einem alten Jutebeutel von Aldi, der an ihrem rechten knochigen Arm hing, einem anarchistischen Schritt, einem leeren Glass in ihrer linken Hand, und einem breiten Lächeln, das mich neugierig aus der Zahnlücke zwischen den zwei vorderen Zähnen immer noch beobachtet.
Sie ging aus meinem Alltag raus. Und sie ist in meinem Herzen ewig geblieben.
Sie. Die Freiheit.
Petya Zyumbileva
Die „Freiheit“ entweder sie kommt oder sie muss hart erkämpft werden, so einst der Rheinsche Spötter mit Namen Heinrich Heine, der sie auch im Nachrevolutionären Paris nicht wirklich am Schopfe fassen konnte. Dieses zarte Plänzlein braucht vor Allem gute Pflege womit die ersten Probleme dann breitbeinig im Raume stehen werden. Hier, in dieser epischen Ausbreitung kommt sie grußlos vorbei, mann prostet sich zu, fackelt Tabak ab und vom Ende her betrachtet ist alles wieder vorbei. Der Ascher ist voll. Hölle, wo ist dein Sieg, oder, … wessen Herz ist frei?