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23.09.2005, © Vivienne

Die Gnade der späten Geburt

Dieser Tage ist Simon Wiesenthal verstorben. Jener Mann, der vierzehn (!) Konzentrationslager überstanden und es sich nach seiner Befreiung in Mauthausen zur Aufgabe gemacht hat, führenden Nazis, die nach dem Fall des dritten Reiches untergetaucht waren, nachzuspüren. Wiesenthal hat sich bei seiner konsequenten Jagd, die er immer dem Motto: Nicht Rache sondern Gerechtigkeit! unterstellt hatte, nicht nur Freunde gemacht. Teilweise war es erschüttternd für mich zu erfahren, welche Prügel ihm dabei oftmals zwischen die Beine geworfen wurden. Und wie schnell sich so mancher deklarierte Nazi nach dem Krieg auch bei uns (mächtige) Freunde gefunden hatte, die ihn vor Wiesenthal und der gerechten Bestrafung schützen wollten…

Wir können alle froh sein, die uns ein Leben während des Naziregimes erspart geblieben ist. Für nicht Betroffene ist es zugegebenermaßen leichter die Gesamtsituation und die damaligen Verhältnisse zu durchschauen und Stellung zu beziehen. Im 3. Reich konnte eine regimefeindliche Äußerung bisweilen schon genügen, dass man von der Gestapo einen unerfreulichen Besuch bekam. Was natürlich erklärt, dass die meisten sich mit Hitler und den Nazis arrangierten. Dass man zusah oder, besser gesagt, wegsah, wie Juden verfolgt und enteignet wurden und in Konzentrationslager verfrachtet wurden: so wie viele Sozialisten, Sinti und Roma, Homosexuelle, Regimegegner, … Ich habe mich schon als Kind immer wieder gefragt, wie es möglich war, dass eine Riesennation (Deutschland mit Österreich) nicht in der Lange war, Hitler und seinen grausigen Würgekraken, der das Land eisern festhielt, mit vereinten Kräften abzuschütteln.

Heute weiß ich: der Hauptgrund lag in der Organisation verborgen. Das Spitzelwesen blühte, Denunzianten und Opportunisten lagen profilierungssüchtig auf der Lauer und verrieten jeden, der sich nicht an die neuen Verhältnisse anpassen wollte oder zumindest nicht so tat. Nicht alle, und das sei klar gesagt, waren Anhänger des Führers und der NSDAP. Aber viele hatten etwas zu verlieren, das ist der Punkt: Ansehen, eine Familie oder einen lieben Menschen, Ausbildungsmöglichkeiten, einen Arbeitsplatz… Fast so viele Gründe wie Menschen selber. Kurt Waldheim, umstrittener österreichischer Präsident in den 80er Jahren, räumte im Zuge der Nazi-Anschuldigungen gegen ihn ein, dass er um sein Studium fortführen zu können einer Untervereinigung der SS beigetreten war.

Unter diesem Aspekt vielleicht nachvollziehbar, aber die Frage stellt sich für mich trotzdem: wenn ich unter einem menschenverachtenden Regime lebe, muss ich mich zweifellos arrangieren – man denke etwa an all die Menschen im ehemaligen Osten, deren Situation durchaus vergleichbar war. Aber um welchen Preis? Wie weit kann und darf dieses „sich arrangieren“ gehen? Was ist „gerade noch akzeptabel“, was ist schließlich „untragbar“? Schwer zu sagen. Und ich möchte nicht den Stab über die vielen Mitläufer brechen, die es sich seinerzeit vielleicht etwas zu leicht gemacht hatten. Und überdies nicht erwartet hätten, dass das „Tausendjährige Reich“ gerade zwölf Jahre dauern würde… Immer wieder werden vor allem Prominente oftmals von sehr harten Denkern der Moderne angegriffen und für ihr Mitläufertum und ihr „sich Arrangieren“ angegriffen.

Wenn ich auch nicht in Frage stelle, dass es sich viele im Dritten Reich zu leicht gemacht hatten und es neben Rückgrad vor allem auch an Zivilcourage fehlte: haben wir das Recht diese Menschen zu verurteilen, die ihr Leben damals mit einer gehörigen Portion Zynismus und auch mit Scheuklappen zu bewältigen versuchten? Aus der Distanz lässt es sich leicht Kritik üben, aus der Distanz kann man auch die Zusammenhänge besser erkennen und durchschauen. Aber wie hätten wir gehandelt, wären wir damals auf der Welt gewesen? Hätten wir vielleicht schon Hitlers Truppen am 13. März 1938 wieder heimgejagt? Oder wären wir, wie unsere Vorväter, Opfer jener Zeit geworden, Opfer einer großen Krise, in der sich die Menschen von Hitler vor allem Arbeitsplätze und Brot erwarteten?

Ein typischer wie unglaublich harter Spruch aus der Nachkriegszeit lautet: „Lieber zehn Russen am Bauch, als kein Dach über dem Kopf!“ Ich muss diese Worte wohl nicht näher erklären, und das Zitat zeigt auch auf, dass sich das Gros der Menschen in schlimmen Situationen immer anzupassen bereit ist, für welchen Preis auch immer… Simon Wiesenthal hat also vorgelebt, dass blinde Rachsucht die Menschen nicht weiterbringt, im Erkennen, Begreifen und Verstehen liegt die Erkenntnis. Und vor allem auch im daraus lernen. Jemanden zu verurteilen für Vorgänge die er nur schwer durchschauen oder richtig einschätzen konnte, würde ich mich im Einzelfall oder auch kollektiv jedoch hüten. Besser wäre es die Augen darauf zu richten, was heute um uns geschieht und was Neonazis und Skinheads anrichten. Denn wir leben im Jetzt…

Vivienne

 

 

 

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1 Gedanke zu „bohnenzeitung.com“

  1. 1938 – AUSTRIA AM ENDE

    Die Weichen waren gestellt,
    Die Entscheidung ist gefällt.
    Mit Österreich ist nun Schluss,
    Anschluss ohne einen Schuss.

    Vergebens noch Schuschnigg droht:
    Bis in den Tod Rot – Weiß – Rot!
    Die Wehrmachtslawine rollt,
    Man wird ins Reich heimgeholt.

    Erstes Opfer sei man gewesen,
    Ist nach dem Kriege zu lesen;
    Vergessen die Jubelmassen.

    Sieben Jahre mit Deutschland,
    Da gab es keinen Aufstand;
    Es fiel schwer dies zu fassen.

    Rainer Kirmse , Altenburg

    Herzliche Grüße aus Deutschland

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