Home Prosa Philosophisches
26.10.2005, © Vivienne
Abhängigkeit
Die meisten von uns schätzen es, selbständig zu sein.
Auch ich.
Von niemandem abhängig.
Selbst bestimmend.
Eigenständig.
Ein simpler Gips kann diese Situation aber ändern.
Von einem Tag auf den anderen.
So geht es mir.
Ich habe einen Gipsfuß.
Soll mich so wenig wie möglich bewegen.
Ich kann mir keinen Kaffee mehr kochen.
Nicht allein.
Ich darf nicht normal sitzen.
Das Bein soll immer hoch gelagert sein.
Ich kann deswegen nicht richtig vor dem PC sitzen.
Tolles Herbstwetter!
Aber ich kann nicht draußen spazieren gehen.
Die Sonne genießen.
Mich an- und umzuziehen ist ein Problem geworden.
Vor allem Hosen und Socken.
Gehen nur mit Krücken.
Und das ist fast nicht machbar.
Ohne zumindest dann und wann den Gipsfuß aufzusetzen.
Was ich aber nicht sollte
Ich hasse diese Situation.
Mit jedem Tag mehr.
Vielleicht bin ich auch schon sehr lange allein.
Dass mein Unmut deswegen so groß ist.
Wildfremde Leute um Hilfe bitten.
Oder auf deren Wohlwollen angewiesen zu sein:
Das schmeckt mir nicht.
Ich meistere mein Leben!
Ich schaffe, was ich schaffen muss!
Eine selbständige Frau.
Die nicht um Hilfe bettelt.
Sondern die Dinge selber in die Hand nimmt.
Wenn nötig.
Wehrhaft und stark.
Selbstbewusst.
Aber jetzt gerade eben nicht.
Ich bin wie ein Vogel in der Mauser.
Ich kann nicht fliegen.
Ich bin anfällig.
Und ich brauche Hilfe.
Immer wieder.
Auch wenn mir das nicht gefällt.
Die meisten Dinge im Leben passieren nicht ohne Grund.
Das Problem mit meinem Sprunggelenk hatte sich angekündigt.
Schon Ende des letzten Winters.
Ich habe das Bein trotzdem nicht geschont.
Wohl auch, weil es in den Spitälern lange für gering geachtet wurde.
Erst kürzlich noch.
Jetzt ist das Problem nicht mehr gering.
Ich muss einen Gips tragen.
Und mich schonen.
Und ich kann meine Angelegenheiten nicht mehr alleine regeln.
Vielleicht auch eine doppelte Lektion:
Nicht nur in Sachen Sprunggelenkschonung.
Sondern auch in Sachen Erkenntnis.
Unversehens kann jeder von uns auf Hilfe angewiesen sein.
So selbständig kann er gar nicht sein.
Und so wichtig
Auch wenn es bei mir nur ein paar Wochen sein werden.
Ich muss innehalten.
Manches wird auf Eis gelegt.
Manches muss warten.
Vor allem ich selbst.
Vielleicht die größte Prüfung.
Mich in Geduld zu fassen.
Etwas über mich ergehen zu lassen.
Ob ich es will oder nicht.
Bisweilen kann so eine Lektion sehr heilsam sein.
Sie zeigt uns unsere Grenzen.
Und sie heilt unseren Hochmut:
Ich brauche niemanden!
Ein Trugschluss.
Nichts ist selbstverständlich.
Nicht der Spaziergang in der Oktobersonne.
Oder das scheinbar einfache Bewältigen einer Treppe.
Ein Gips kann helfen alles mit anderen Augen zu sehen
Vivienne
Redakteure stellen sich vor: Vivienne
Alle Beiträge von Vivienne