Das Pendel der alten Uhr – In die Stille gerettet

Textauszüge: Harry Popow – „In die Stille gerettet“. Persönliche Lebensbilder. Engelsdorfer Verlag, Leipzig, 2010, 308 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86268-060-3

Das Pendel der alten Uhr (Seite 286)

Madesjö, Kirche. August 2002. Außentemperatur 27 Grad plus. In der Kirche unter der riesigen Kuppel abgebremste Sonnenwärme, angenehm. 24 Verwandte von Ann-Christin sitzen in den ersten zwei Reihen, ganz in Schwarz gekleidet. Vorne ein weißer Sarg, umgeben von Rosen. Zehn weiße Kerzen, deren Flämmchen nicht wagen zu flackern. Atemlos die Stille, bis kurz vor 13 Uhr der Klang der Kirchenglocken von oben her ins Innere dringt – bis in die Seelen der Trauernden. Sie zu verabschieden haben alle sich versammelt, Ann-Christins Mutter. Wir sahen sie oft. Bei Festen von Gadderos: Still lächelnd, fast scheu, stand sie da mit ihrem Mann, dem starken und ergrauten. Es heißt, ein plötzliches Herzversagen habe ihm seine Frau genommen. Mein Blick fällt auf eine typisch schwedische Standuhr mit blauer und goldgelber Bemalung, die links an der Wand steht. Das Pendel der Uhr – durch ein rundes Bullauge sichtbar – schlägt unaufhörlich und still vor sich hin. Mal links, mal rechts. Im Sekundentakt. Für die Mutter war die Zeit um. Jedes hat seine Zeit. Wann kommt unsere? Noch immer schwingen die Glocken. Entrückt in die Welt des Erhabenen, versenken sich so manche Gedanken in die eigene Vergangenheit, an die eigenen Eltern und an das, was uns bevorsteht. Cleo neben mir, mit leicht geblümtem Rock, schwarzer Bluse, die hübschen Beine übereinandergeschlagen. Ich sehe ihre zarten und schmalen Füße, berühre Cleo leicht mit dem rechten Zeigefinger. Sie schaut mich an, vor meinen Augen verschwimmen ihre Gesichtskonturen, sehe nur ihre noch hellen und lieben Augen, und ich muß wegsehen … Sie drückt meine Hand. Orgelmusik. Bin glücklich wie vor 42 Jahren. Verhaltene Worte der Pastorin. Alle erheben sich. Einzeln sagt man ganz im Stillen „Auf Wiedersehen!“ Als erster steht der Vater von Ann-Christin am Sarg. Er, der große starke Mann, zurückhaltend wie seine Frau, beugt sich über den darüber, preßt mit Mühe einige Worte hervor, bricht dann zusammen, der schluchzende Graukopf sinkt auf den Sargdeckel, der alte Mann pocht mit der rechten Faust gegen das Holz, der ganze Körper bebt. Nein, er kann es nicht fassen, nicht verstehen, daß sie ihn verlassen hat, nein, nein, nein!! Und ich sehe mich plötzlich so in dieser Situation, irgendwann. Ich spüre, wie die seelischen Qualen auch mich ergreifen, wie sie sich in mein Herz verpflanzen. Eine Erschütterung dringt in dich hinein, die dir unerbittlich vor Augen führt – die Endzeit jeglicher Liebe, jeglichen Lebens. Ich schiele noch einmal zur Standuhr. Das Pendel schlägt aus. Sekunde um Sekunde. Wie wenige Zeit haben wir verloren durch gegenseitige Unachtsamkeit und Verletzungen, wiewiel gewonnen durch innige und starke Liebe, die sich im täglichen Einerlei bewährt hat, weil es nie ein Einerlei gegeben hat!!

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