Der Tanz (4)

Nach einigen Jahren des Rechnens fühlte er sich, als hätte er lange keine Luft mehr in den Lungen gespürt. Er ging zu seinem Fenster, das er sich hart verdient hatte, und versuchte es zu öffnen. Doch nichts bewegte sich. Der Mann rief bei den Menschen an, die das Haus verwalteten, und sagte, dass sein Fenster kaputt sei, es ließe sich nicht öffnen. Ob man jemanden schicken könnte, der es repariert. Das ginge nicht, teilte man ihm mit. In den oberen Stockwerken könne man die Fenster nicht öffnen. Es habe schon Unglücke gegeben. Man müsse aber kein Fenster öffnen. Alle Räume seien ausreichend mit Atemluft versorgt. Der Mann legte den Hörer auf.

Auch am nächsten Tag glaubte er wieder zu ersticken. Er öffnete die Tür seines Büros, fuhr mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss, ignorierte den verwirrten Blick des Pförtners und trat vor das Gebäude. Das Sonnenlicht blendete ihn ein wenig und er musste achtgeben, dass er nicht von den Menschen, die zu ihren Terminen hetzten, über den Haufen gerannt wurde. Der Mann hielt sich am Rande des Bordsteins und schlenderte so langsam vor sich hin, wie er sich lange nicht mehr vorwärts bewegt hatte. Er schaute in die starren Gesichter der Menschen, die an ihm vorbeirannten. Er lächelte, aber niemand lächelte zurück. Er schlenderte weiter und legte seinen Kopf in den Nacken. Dort oben war der Himmel blau. Weiß waren die Wolken. Er wünschte sich, einen Vogel hören zu können, aber er wusste nicht, ob es noch Vögel gab.

Doch plötzlich hörte er ein Lied. Es kam ihm bekannt vor, als hätte er es früher schon einmal gehört. Er folgte den Tönen um eine Straßenecke und sah zwischen zwei parkenden Autos eine Frau tanzen. Sie trug einen grünen Rock und einen lila Pullover. Einen gelben Schal hatte sie in ihre roten Haare gebunden. Weit schwang sie ihre Arme in die Luft, während sie sich wild drehte und aus vollem Hals ein Lied über die verlorene Zeit sang. Die Sonne glitzerte in ihrem Haar und ihr Rock wirbelte weit um sie herum.

Der Mann ging näher zu ihr, bis er direkt neben ihr stand. Am liebsten hätte er mitgetanzt und mitgesungen. Aber gesungen und getanzt hatte er schon so lange nicht mehr, dass er nicht mehr wusste, wie es geht. Deshalb schaute er ihr nur zu. Irgendwann bemerkte die Frau ihn, beendete das Lied und trat vor ihn. Sie lächelte ihn an und sagte: „Ich bin Luna.“ Der Mann runzelte die Stirn und fragte: „Warum heißt du Luna, wenn du hier doch im Sonnenlicht tanzst?“ Luna schaute traurig und antwortete: „Früher habe ich im Mondschein bei den Bäumen getanzt und kleine Eulen haben mir ihre Geheimnisse verraten. Zuerst waren die Eulen weg und dann die Bäume. Und schließlich wurde es nachts für mich allein zu gefährlich. Deshalb tanze ich jetzt im Sonnenlicht.“ „Was tust du sonst?“, fragte der Mann. Sie zuckte die Achseln: „Alles und nichts. Ich kann zaubern. Manchmal kann ich Menschen glücklich zaubern.“ Und der Mann lächelte und nickte. Sie griff in ihr Haar, in dem kleine bunte Blumen steckten, und schenkte ihm eine rote Blume.  Der Mann steckte sie in die Tasche und sagte: „Ich habe lange kein Lied mehr gehört.“ Luna nickte: „Die Menschen haben kein Ohr mehr für Lieder und Geschichten. Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“ Der Mann nickte begeistert, denn auch an Geschichten konnte er sich kaum noch erinnern. Doch da schrillte vom anderen Ende der Straße der Pfiff einer Trillerpfeife und Männer in grauen Uniformen rannten herbei. Luna rief ihm zu: „Ich muss weg, sonst nehmen sie mich wieder mit und ich sehe keine Sonne und keinen Mond mehr.“ Und sie rannte davon.

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