Descanse en paz (Ruhe in Frieden) – Schlumpfenland ist überall

Romanauszug von Toni Rieger

Hermano hatte sich zu Sebastiano gesellt. Beide sahen zur Beerdigungsgesellschaft hinüber und verfolgten das Absenken des Sarges in die Grube.
„Eine schöne Beerdigung, Sebastiano. Schau nur genau hin. Der Monsignore hat seinen Text sehr gut auswendig gelernt und du musst immer nur auf seine Worte achten und du wirst schon sehr bald verstehen.“
Sebastiano hatte einfach Hermanos rechte Hand erfasst und sein fragender Blick war es, der diesen zum Lächeln brachte.
Ein Blick, der verriet, dass Sebastiano eigentlich noch viel zu klein war, um irgendetwas von dem Gesprochenen auf der anderen Seite des Friedhofs zu verstehen. Zumal die Stimme des Priesters, nur sehr leise bei den beiden Schauenden zwischen den Grabsteinen ankam.

Hermano sah immer die Sonne bis zum höchsten Punkt des Tages aufsteigen, aber er wunderte sich doch darüber, dass ihm ausgerechnet heute so leicht ums Herz war.

Der Padre hatte seine Predigt zur Beisetzung der alten Silviaria beendet und reichte den in langer Schlange vor der noch geöffneten Grube angetretenen Trauergästen, mal die linke und mal die rechte Hand. Und während die Frauen vor dem Priester ohne Ausnahme einen züchtigen Knicks machten, glaubten die Kerle in ihren fleckigen Anzügen wohl, dass ein kurzes Bekreuzigen ausreiche um der Alten, aber wohl in erster Linie dem Monsignore, die Ehre zu erweisen.

Hermano musste seufzen
Die Grabsteine des Friedhofes waren es, die seinem Schützling nun schon seit längerem die Bücher und Fibeln einer Schule ersetzten. Denn, obwohl Sebastiano erst vier Jahre alt war, konnte er schon den einen oder anderen Namen und die Geburts- und Sterbedaten auf den Grabsteinen richtig entziffern. Eine überaus gute Prognose für die weitere Entwicklung dieses Knirpses, war hier wohl schon sehr voraussehbar.

Dieser kleine Kerl war damals einfach unvermittelt vor dem Friedhofstor aufgetaucht. Ein halbes Jahr war das nun auch schon her.

Hermano, Polizist, der bei einer Schießerei in einem der Vororte getötet wurde und Frederico, der Kassierer der Bank, den es bei einem Raub-Überfall schon vor Jahren erwischte, wurden dann nach einigen hitzigen Debatten in den Kreisen der Toten, zu Sebastiano`s Lehrern ernannt.
Die anderen hatten sehr wohl erkannt, dass Lehrer als erstes sehr belesen sein mussten.
Bank-Kassierer und Polizist, das war doch etwas!
Und, dass Sebastiano gute Lehrer brauchte, war für die ganze Gemeinde auf diesem Friedhof gar keine Frage.

Das Studium der Inschriften auf den Grabsteinen, machte Sebastiano anscheinend großen Spaß und die beinahe täglichen Beerdigungen, brachten zusätzliche Eindrücke und Hermano wünschte sich für den kleinen Kerl ein soviel an Informationen, wie nur irgend möglich.
Denn, wenn etwas ganz klar sein dürfte, dann, dass Sebastiano sich irgendwann mal auf den Weg vom Friedhofsgelände machen müsse und sie alle mit ihren Erinnerungen alleine lassen müsse. Aber, bis es endlich soweit sein würde, dürfte die Sonne hoffentlich noch sehr oft, ihren Weg über den blauen Himmel von Buenos Aires machen.

„Er hatte die alte Silviaria wohl sehr lieb, Onkel Hermano?“
Sebastiano war es, der Hermano wieder zurück zwischen die Grabsteine brachte und sein Grübeln schlagartig beendete.
„Er ist der Monsignore. Er liebt alle Menschen. Doch ich befürchte, er kannte sie noch nicht einmal.“
„Ich werde sie morgen Abend fragen. Sie wird uns doch besuchen kommen, Onkel Hermano?“
„Ich glaube, auf dem Teil des Friedhofs dort drüben liegen keine Grenzgänger, die zwischen den Welten wandeln. Schade eigentlich, ich habe sie sehr gerne gemocht. Zu unseren gemeinsamen Lebzeiten, meine ich natürlich.“

*

Der Große stand breitbeinig über den leblosen Körper gebeugt und während er noch in den Taschen seines Opfers nach Wertsachen suchte, entging ihm, dass sich die hintere, ihm abgewandte Türe leise öffnete und einem kleinen Körper so die Flucht aus dem beinahe schon lichterloh brennenden Auto gelang.
Zusammen mit dem Kleineren versuchte der Große den Leichnam des Mannes in Richtung des brennenden Wagen zu schleifen, wohl um die Spuren des brutalen Mordes zu beseitigen. Doch die Hitze des Feuers war für einen lebenden Menschen schon beinahe nicht mehr auszuhalten. Daher blieb der Körper schließlich außerhalb der Reichweite der Flammen liegen, während die tote Frau am Lenkrad nun ein Raub der alles vernichtenden Flammen wurde.

Die stummen Gestalten, die über die Friedhofsmauer hinweg, diesem brutalen Geschehen mit ihren beinahe blinden Augen folgten, blieben für die beiden Mörder unsichtbar.

Als sich die Mordbuben vom Ort ihres Überfalls entfernt hatten, beschlossen die Bewohner des Friedhofes sich des kleinen Flüchtlings anzunehmen, der beinahe besinnungslos vor Angst, sich hinter einem dichten Busch im Eingangsbereich des nun der Nacht wegen verriegelten Friedhofstores versteckt hatte.

*

„Wir sind die Bewohner des Friedhofs, mein Name ist Evangelios. Ich war ein Seemann, der in der >>Rio de la Plata<< Mündung mit seinem Schiff unterging und nach Wochen als Leiche auf See treibend, doch noch von christlichen Menschen hier beerdigt wurde.“ Der aufgedunsene Kerl machte sein abstoßendes Äußeres durch die unendliche Güte, die seine Augen ausstrahlten, schon wieder sehr wett, sodass Sebastiano sofort in sich Zuversicht verspürte. Der Blick war`s, der ihn tröstete. „Salvatore Grimaldi aus der >>Capital Federal<<. Ich war früher der Bürgermeister und wurde von meinen Entführern gemordet!“
Der überaus schlanke, Großgewachsene, mit dem von einer weißen Mähne umrandeten Kopf, machte vor Sebastiano eine leichte Verbeugung. Die klaffende Wunde, auf die er mit seinem rechten Zeigefinger zeigte, sollte wohl die Art seines Ablebens zeigen. Diese zog sich ohne Unterbrechung vorn über seinen Hals. Von einem Ohr zum anderen.
Sein dichter Bart war mit wohl schon sehr lange getrocknetem Blute verklebt.

Eine kleine, dickliche Frau in der vielfarbigen Kleidung der Bewohner der westlichen Provinzen, hatte sich durch die doch sehr seltsam wirkende Gruppe, scheinbar nur Gaffender gezwängt und nahm den noch immer sehr verschüchtert wirkenden kleinen Kerl einfach auf ihre Arme.
Sie hatte wohl sofort erkannt, dass Sebastiano noch unter dem Schock der Ermordung seiner Eltern litt.
„Auch wir sind Ermordete, Sebastiano. Ich werde dich einfach Sebastiano nennen. Nicht nur weil du meinem ältesten Sohn sehr ähnelst, der jetzt so alt ist, wie ich bei meiner Ermordung vor beinahe vierzig Jahren war. Du hast doch bestimmt Hunger, mein kleiner Schatz.“
Bei diesen Worten strich sie mit einer Hand über das blonde Haar des Jungen.
„Wir sollten darüber abstimmen, wer sich um den Jungen kümmert. Anastasia kennt sich da wohl am besten aus. Aber ich denke, hier sollte jedermann zu Worte kommen.“
Der Mann in der halb verbrannten Uniform eines Admirals, hatte seine Arme gehoben und es sah beinahe so aus, als würde er nun zu einer Rede, vor in Haltung angetretenen Seesoldaten anheben.
Anastasia, die kleine resolute Frau, flüsterte dem Kleinen zu: „Das ist Admirale de Solsa, er wurde von den Briten vor den Malvinas, die die Briten die Falklands nennen, an Bord seines brennenden Kreuzers versenkt. Er meint, auch hier seine Truppen befehligen zu müssen. Höre einfach nicht auf ihn. Er hatte seine Karriere nur seinen guten Beziehungen zu verdanken. Im Grunde ein sehr einfach denkender Un-Toter.“

Das war damals, als Sebastiano plötzlich ihre Hilfe brauchte. Und dass sie helfen müssten, war allen schon von Anfang an klar.

Ein Geräusch ließ Hermano erschrecken. Frederico, der sich unbemerkt von beiden genähert hatte, zeigte auf die zwei Gesellen, die etwas abseits der Trauergemeinde wohl nur beobachtend, Aufstellung genommen hatten. Seine Augen blitzten verräterisch.
„Das sind die zwei Mörder, Hermano. Ich will meine Wundverbände fressen, wenn das nicht die Mörder der Eltern von Sebastiano sind. Der Große ist mir noch verdammt genau im Schädel verhaftet. Den kleineren konnte ich, des Feuers wegen, nicht richtig sehen. Aber die Größe kommt hin. Was machen diese Burschen hier? Haben sie womöglich die Alte auch umgebracht?“
„Ich kenne die beiden von früher, sind Polizisten, wie ich mal einer war. Du glaubst wirklich…?“
„Ja, wenn ich’s dir doch sage! …Polizei?“
Frederico schüttelte ungläubig seinen Kopf.

*

Die Frau am Lenkrad sah zum neben ihr Sitzenden.
„Das ist die Stelle, Giorgio? Sie hatten dich hierher bestellt? Der Kleine schläft und wir sollten die Sache so schnell wie möglich erledigen. Wenn wir die Unterlagen haben, fahre ich sofort weiter. Der Kleine muss ins Bett.“
„Wir hätten den Kleinen zuhause lassen sollen. Mit den Unterlagen werde ich morgen früh die Regierung zum Rücktritt zwingen, Aurelia. Perron wird schäumen vor Wut, doch helfen wird’s ihm nicht. Es lebe Argentinien!“
„Wir haben ihn mitgenommen, damit unsere Aufpasser gegenüber unserer Villa, unbesorgt sein können. Kein Mensch wird vermuten, dass wir unser Kind gefährden würden, wenn wir wieder unsere Informanten hier treffen, Giorgio.“
„Ich kann nur hoffen, du hast Recht, Aurelia.“
Der Wagen hielt, wie abgemacht, an der Mauer gegenüber dem Friedhofseingang. Die Sonne war längst untergegangen und der uralte Baumbestand der unendlich sich erstreckenden Grabanlage, legte unwirkliche Schleier von Düsternis über die ganze Szenerie. Aurelia verspürte einen leichten Schauer auf den nackten Schultern.

Giorgio, der ausgestiegen war und sich soeben eine Zigarette entzündete, spürte den Angriff beinahe gar nicht mehr. Die durch das geöffnete Seitenfenster geworfene Handgranate detonierte mitten im Auto, als Giorgio schon leblos zu Boden gesunken war.

*

„Wir lassen es wie einen Raubüberfall aussehen. Wenn die Leichen nur ordentlich verkohlt sind, gibt es auch keinen Zweifel mehr daran.“
„Du bist der Grande Collonelle, Serges.“

*

„Serges di Cavalho, Oberst der Staatssicherheit. War früher mal bei der Politischen. Ist schon lange dabei. Hat bisher alle Regierungswechsel unbeschadet überstanden und ist meist dabei auch noch nach oben gefallen. Hier könnten wir, wenn es denn stimmt, seiner Karriere einen kleinen Dämpfer verpassen, Frederico!“
„Keinen kleinen Dämpfer, Hermano, das Ende! Der Saukerl hat Sebastianos Eltern auf dem Gewissen. Und womöglich nicht nur diese.“
Beide blickten zu dem Genannten hinüber und hatten dabei so etwas wie Angriffslust in den wachsbleichen Augen.
Sebastiano sah von dem Einen zum Anderen und es war ihm nicht anzusehen, dass er doch jedes ihrer Worte sehr genau registriert hatte.
Den Admiral in seiner Uniform, der überaus schweigsam hinzugekommen war, sah nur die alte Silviaria, die nun ganz unerwartet und von allen unbemerkt, auf ihren krummen Beinen über alle Gräber hinweg, auf sie zugewatschelt gekommen war.
„Es ist alles nur ein großer Plan. Alles vorhersehbar. Und ich und ihr, wir sind das Werkzeug der Mächte, die es nur gut meinen mit den Menschen. So meine Vorhersage.“
Ihr rauchiges Stimmorgan, hatte dann die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf die Alte gelenkt.
Hernano sah erstaunt, dass auch Anastasia und der Grieche, sowie beinahe all die Anderen auf den umliegenden Gräbern standen. Dazu kam, dass aus beinahe allen Grabstätten sich deren Bewohner erhoben. Auch die, die sich schon sehr lange nicht mehr um die gemeinsame Friedhofsgeselligkeit gekümmert hatten und stattdessen, wohl einfach nur mal richtig ausschlafen wollten.

*

„So, die Puffmutter ist nun unter der Erde. Von daher kann nichts Unangenehmes mehr kommen. Gut, dass sie tot ist. Treibt das Luder doch doppeltes Spiel mit ihren fünfundachtzig Lenzen. Ne Plastiktüte über den Kopf und der Arzt der den Infarkt bestätigt und schon macht der Pfaffe für uns den Rest.“
„Und der Kleine? Was machen wir, wenn der Kleine dann endlich auftaucht. Im Wagen war er ja nicht. Keine Spur von dem Bengel. Die Frage ist doch nur, was ein Vierjähriger eigentlich aussagen kann, der womöglich die ganze Fahrt über im Auto nur gepennt hat.“
„Der Kleine? Wenn du mich fragst, Perrigo, dann gehört der auch so schnell wie möglich auf den Friedhof, sollen sich doch die Toten um ihn kümmern. Sein Vater, jedenfalls, verstärkt nun den Zement der Brücke über den Rio nach Uruguay. Bei der Mutter gab`s nichts mehr zu verbuddeln, wie du ja weißt. Gönne doch den Toten ihre Ruhe.“
Den Obersten streifte ein kühler Luftzug, der ihn leicht erschauern ließ.

*

„Ruhe! Alles mal herhören. Das sind die Mordbuben. Wir können sie bestimmt fertig machen. Doch das verlangt nach guter Planung. Ich schlage daher vor…“
Weiter war der Admiral nicht gekommen, da der Grieche soeben auf ihn zugeeilt war und ihn zu feste am Ärmel fasste, der hierdurch abfiel und damit einen spindeldürren Arm, der allgemeinen Betrachtung Aller freigab. Doch die starrten nur auf den kleinen Sebastiano, der anscheinend ohne Angst, geradewegs zu den Mördern der Eltern spazierte, wobei die Toten, die mittlerweile beinahe in Armeestärke angetreten waren, für ihn bereitwillig eine Gasse bildeten.

*

„Ja träume ich denn? Da, sieh hin Serges. Dieser kleine Kerl da. Das da muss er doch sein. Der Junge, der uns solches Kopfzerbrechen bereitete. Der Kleine von Giorgio und Aurelia Despato. Den schickt uns jetzt glatt der Himmel.“

Der kleinere der beiden Kerle hatte gestikulierend auf den Jungen gezeigt, nachdem er sich, rundum blickend davon überzeugt hatte, dass die Beerdigungsgesellschaft den Friedhof längst schon verlassen hatte.
Dass das große Reiter-Denkmal des noch größeren Simon Bolivar in ihrem Rücken bedenklich wackelte, bevor es schließlich in ihre Richtung kippte, nahmen beide nicht mehr bewusst wahr.

*

Es war dann Anastasia, die Sebastiano vor aller Augen auf die Arme nahm und ihm zuflüsterte: „Komm, mein Kleiner, du musst doch jetzt einen mächtigen Hunger haben, so wie ich dich kenne. Ich habe dir ein Täubchen gebraten und dazu Maronen geröstet. Iss dich nur satt, denn heute ist doch dein Geburtstag.“

(© ToRi 2009)

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