Die Freude am Leben

Der Mensch ist unzufrieden.
Findet sich mit vielem nicht ab.
Rebelliert gegen dies und das.
Und ist oft zu tief getroffen.
Wegen Kleinigkeiten.
Bagatellen.
Die sich wieder richten lassen.
Ins Lot kommen werden.
Ganz sicher sogar.
Oft ist es nur eine Frage der Zeit.
Trotzdem.
Der Mensch scheint nicht zu lernen.
Nicht zu begreifen.
Dass es im Leben um anderes geht.
Nicht um Materielles.
Nicht um momentane Befriedigung.
Nicht um einen Mann, der einen nun mal nicht lieben wird.
Nie.
Oder um großen beruflichen Erfolg.
Das Leben hält oft ganz andere Bandagen für uns bereit…

Ich muss mich selber an der Nase nehmen.
Bisweilen bin ich ungeduldig.
Und jammere auf.
Kämpfe gegen Windmühlen.
Aber gestern wurde ich blass.
Weil mir die Augen geöffnet wurden…
Ich fuhr mit dem Bus in die Arbeit.
Eine junge Frau stieg ein.
Mit einem Kombi-Kinderwagen-Sportwagen.
Zwei kleine Kinder darin.
Zuerst sah ich nur ihre langen, dunklen Haare.
Dann erst bemerkte ich die riesige Narbe an der Kehle.
Die sich über den Brustkorb zog.
Narben auch an den beiden Oberarmen.
Narben, wie ich sie noch nie gesehen habe.
Und dann der Schock.
Der rechte Arm endete über dem Ellbogen.
Amputiert.
Ein schwerer Unfall.
Das ging mir durch den Kopf.
Brandwunden.
Und ein Unterarm, der nicht mehr zu retten gewesen war…

Die Frau stieg allein ein.
Man half ihr beim Befestigen des Kinderwagens.
Bot ihr und dem Größeren sofort Platz an.
Die Unterhaltung im Bus stagnierte plötzlich.
Aber die Frau hatte alles im Griff.
Sie betreute ihren älteren Sohn mit dem linken Arm.
Während das Kleine schlief.
Schimpfte nicht, weil er die Trinkflasche immer wieder fallen ließ.
Warf Verpackungsmaterial in den Papierkorb.
Flink und geübt.
Ohne zu jammern.
Aber mit viel Zärtlichkeit in der Stimme.
Ich beobachtete diese junge Mutter einige Zeit.
Sie verbarg ihre Narben nicht.
Wie ich es getan hätte.
Ganz sicher sogar.
Sie zeigte sie offen.
Und sie wirkte nicht unglücklich.
Nicht einen Moment.
Eine ältere Frau sprach sie an.
Fragte sie lächelnd zu ihren Kindern aus.
Die Stimme der Frau klang wie ein melodiöser Mehrklang.
Als sie über ihre Babys sprach.

Das Leben ist kein Videospiel.
Kein neues Leben, wenn man seines verloren hat.
Per Knopfdruck den Modus wechseln, wenn es zu schwierig geworden ist.
Dem Leben musst du dich stellen.
Ob du willst oder nicht.
Die junge Frau tut es.
Mit einem Schicksal, das andere in Wehklagen verfallen lässt.
Sie jammert nicht.
Sie nimmt es an.
Tag für Tag.
Immer wieder.
Und sie hat ihre Kinder.
Die ihr Kraft geben.
Und Mut machen.
Es gibt auch einen Mann in ihrem Leben.
Das hörte ich aus dem Gespräch heraus.
Ein Mann, der sie annimmt wie sie ist…
Freude am Leben.
Die mir oft fehlt.
Und die diese Frau versprüht.
Obwohl sie vom Leben gezeichnet ist…

© Vivienne

Schreibe einen Kommentar