Doktor Lis Kräuter

Als Timm vor zwei Wochen nach Hause gekommen war, hatte Daniela kurz von ihrem Buch aufgesehen und gesagt: Und? Timm hatte nur die Stirn gerunzelt und gesagt: weiß nich. Ungefähr zwei Dutzend Ärzte hatte er zuvor schon aufgesucht, um seine Migräne loszuwerden. Der eine hatte ihm Schmerzmittel gegeben, von denen ihm übel geworden war, ein anderer hatte ihm gesagt, das sei gar keine Migräne, ein weiterer hatte ihn angegrinst und gefragt, was er denn mit so einer Frauenkrankheit wolle. Seit diesem letzten redete er nicht mehr darüber.

Vor vier Wochen aber hatte sich alles verändert. Im Bus hatte er zwei Frauen belauscht. Die mit dem dicken schwarzen Kajal um die Augen hatte zu der anderen gesagt, dass sie auf Doktor Li schwöre, er habe sie von ihrer Endometriose geheilt, der Mann könne wirklich gegen alles was ausrichten.

Zuhause hatte Timm dann gleich im Telefonbuch nachgesehen, es gab nur einen Doktor Li. Er rief bei der Nummer an und eine quäkende Frauenstimme sagte: „Hier Praxis Doktor Li. Sagen Sie Ihren Namen und Ihre Telefonnummer. Wir rufen Sie zurück und geben Ihnen einen Termin.“ Timm sprach etwas verwirrt seine Telefonnummer auf, legte auf und merkte, dass er nur seine Privatnummer abgegeben hatte. Wie sollten Sie ihn zur Terminabsprache erreichen? Aber noch einmal anrufen? Nein, eher nicht.

Am nächsten Abend kam er heim, die Anzeige seines Anrufbeantworters blinkte, die quäkende Frauenstimme teilte ihm mit: „Hier Praxis Doktor Li. Ihr Termin ist am 20.4. um 14.00 Uhr.“

Doktor Lis Praxis befand sich über einem Discount-Markt und neben einem Bräunungsstudio. An der Eingangstür musste Timm klingeln, kurz darauf brummte es und er trat ein. Hinter der Rezeption saß eine Frau, die ihn begrüßte und gleich 50€ pauschal kassierte. Als er ihren Akzent hörte, erkannte er die Stimme vom Anrufbeantworter. Sie war jung und hübsch und wirkte wie eine KGB-Agentin aus einem alten James-Bond-Film. Als er auf seine private Zusatzversicherung verwies, lächelte sie ihn an und schickte ihn ins Wartezimmer. Das Wartezimmer wirkte leer, obwohl hinten in der Ecke ein kleines Kind mit einem Buch saß. Das Kind schien zum Inventar zu gehören. An der Wand hingen keine Kalligraphien oder Zen-Kalender, dafür aber ein Aquarell eines Nordsee-Strandes, das Timm gut kannte, es hing auch im Behandlungszimmer seines Zahnarztes. Zeitschriften gab es nicht und sein Stuhl war unbequem, aber nach kurzem Warten wurde er von der schönen KGB-Agentin ins Behandlungszimmer geschickt. Doktor Li war fast so groß wie er selbst. Er reichte ihm nicht die Hand, drückte ihn aber vor sich auf einen Stuhl. Doktor Li hieß ihn die Zunge herausstrecken, die Augen rollen, fühlte seinen Puls. Dabei sagte Timm unsicher: ich habe Migräne. Doktor Li winkte unwirsch ab, konzentrierte sich weiter auf den Pulsschlag und tätschelte ihm dann den Arm. Er griff einen Notizzettel, kritzelte einige Zeichen darauf, gab ihm den Zettel und wies ihn an: „Gegenüber in der Apotheke holen. Jeden Morgen 1 Liter kochen, jede Stunde bis abends eine kleine Tasse trinken.“

Timm fragte noch verwirrt: kriege ich keine Akupunktur? Der Doktor tätschelte ihn noch einmal und schon stand Timm wieder vor der Tür. Er versuchte zu lesen, was auf dem kleinen Zettel stand, konnte das Gekritzel aber nicht lesen. In der Apotheke schien man Lis Schrift zu kennen. Man mischte ihm eine streng riechende Mischung aus Kräutern und Wurzeln und Pilzen und gab ihm noch einmal dieselbe Anweisung, die Li ihm gegeben hatte.

Am nächsten Morgen braute er sich den Tee. Am Abend zuvor hatte Daniela ihn gefragt, ob er akupunktiert worden sei, hatte dann zweifelnd an dem Tee gerochen und gefragt, ob er sicher sei, dass das keine psychedelischen Pilze seien. Wenn er auf einen Trip komme und vom Fenstersims aus zu fliegen versuchen würde, dann würde sie ihn nicht aufhalten. Jetzt stank die ganze Küche nach dem Gesöff. Die erste Tasse trank er auf nüchternen Magen. Es schmeckte wie Erbrochenes nach dem Genuss verdorbenen Fischs.

Am ersten Tag verspürte er noch keinen Effekt, lediglich einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Er wurde etwas grantig und motzte einen Kollegen an, der ihm gerade etwas auf den Schreibtisch hatte legen wollen. Am zweiten Tag begann sich sein Blick zu klären. Er sah auf einmal, dass seine Vorhänge das Licht behinderten und hängte sie abends ab. Auch sein Geschmackssinn reagierte, er schob abends die Pizza von sich weg und fing noch einmal an zu kochen. Jeden Tag schärften sich seine Sinne, jeden Abend wollte er etwas Neues, bis er bemerkte, dass die Migräne, die ihn sonst nachmittags bis in die Abendstunden hinein befiel, verschwunden war.

Doch der Tee ging zur Neige, Timm rief bei Doktor Li an, wollte ein neues Rezept, aber Doktor Li sei verreist, sagte die KGB-Agentin auf dem Anrufbeantworter. Er fuhr zur Praxis, aber niemand öffnete.

Timm wartete stündlich auf die Rückkehr seiner Migräne, aber sie blieb weg. Schließlich rang er sich sogar dazu durch, sich als geheilt zu betrachten.

Einige Wochen später stand er – immer noch schmerzfrei – an der Supermarktkasse und sah vor sich in der Schlange Doktor Li. Timm begrüßte ihn überschwänglich, bedankte sich für die Wunderheilung, fragte ihn aber auch besorgt, was er tun solle, wenn die Migräne zurückkehrte, ob er nicht schon einmal vorsichtshalber etwas von dem Tee zu Hause haben sollte. Doktor Li tätschelte ihm den Arm und sagte: „Kommt nicht wieder. Und wenn sie wiederkommt: Akupunktur.“

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