Das Leben eines Arztes ist oft mehr als nur abwechslungsreich, sehr stressig und nicht immer leicht. Das will hier niemand in Abrede stellen. Was die niedergelassenen Praktiker betrifft, müssen diese auch immer wieder am Wochenende oder an Feiertagen Dienst tun, und bisweilen werden sie mitten in der Nacht und bei unwirtlichem Wetter zu einem Patienten gerufen, der ihnen dann unter Umständen nur einen nässenden Ausschlag zeigt. Den Einsatz vieler Ärzte kann man unter diesen Aspekten nicht hoch genug ein- und wertschätzen, aber trotzdem sollte man sich bisweilen vor Augen halten, dass nicht jeder Arzt mit dem selben Eifer und Einsatz seinen Dienst tut. Zumindest an manchen Tagen….
Katharina Müllner, eine Hausfrau aus dem Mühlviertel, fühlt sich nicht gut, als sie an einem Samstagmorgen im März aufsteht. Die Pensionistin friert ständig und außerdem ist ihr ziemlich schwindlig. Den ganzen Vormittag bleibt sie auf der Couch sitzen, teilnahmslos – ihrem Mann fällt auf, dass sie immer weniger mit ihm spricht, bzw. ihm keine Antworten mehr auf seine Fragen gibt. Er begibt sich in den anderen Stock des Hauses, wo sein Sohn und die Schwiegertochter wohnen und bittet sie um Hilfe. Die Schwiegertochter sieht darauf hin nach Frau Müllner, misst ihr das Fieber und stellt fest, dass die Frau fast 40,0 ° Temperatur hat. Ihre Schwiegermutter ist mittlerweile nicht mehr ansprechbar, weshalb die junge Frau hektisch den Arzt, der dieses Wochenende seinen Dienst tut, anruft.
Der Arzt aus der Nachbargemeinde erklärt sich schließlich bereit zu kommen, rät der jungen Frau, der Fiebernden Aspirin zu geben um das Fieber zu senken und legt auf. Der Seniorin das Medikament zu verabreichen, gerät zu einer Prozedur, aber schließlich schluckt die kranke Frau doch die Tablette. Endlich trifft der lang erwartete Arzt ein, der Herr ist nobel gekleidet und öffnet die Wohnzimmertür, wo er stehen bleibt. Im Wohnzimmer liegt Frau Müllner noch immer auf der Couch. Neben der Patientin sind noch Herr Müllner, sein Sohn und die Schwiegertochter dort anwesend. Der Arzt grüßt nicht. „Wo ist der Patient?“ fragt er leicht abwesend, während er auf die Uhr blickt. Die Schwiegertochter von Frau Müllner weist auf die liegende Frau. Der Arzt bleibt weiter bei der Tür stehen.
„Alkohol?“ ist seine nächste Frage. Die Schwiegertochter widerspricht empört. „Aber nein! Sie hat doch so hohes Fieber!“ Der Arzt macht noch immer keine Anstalten näher zu kommen. „Vielleicht ein Schlaganfall? Frau Müllner, können Sie mich verstehen?“ Die stark fiebernde Frau antwortet nicht. „Das sieht mir nicht gut aus!“ schließt der Arzt seine Begutachtung aus der Ferne ab. „Das könnte ein Schlaganfall sein. Ich überweise sie ins Spital!“ Er zückt seinen Block ohne auf die Einwände der Familie zu achten. Zwei Minuten später verlässt er wieder das Wohnzimmer ohne sich zu verabschieden. Familie Müllner ist für’s erste ratlos, da schlägt die Kranke nach etwa zehn Minuten die Augen wieder auf. Das Fieber ist dank des Aspirins gesunken.
Frau Müllner sucht ein WC auf. Als ihr Mann ihr erklärt, dass sie ins Spital muss, schüttelt sie den Kopf. „Aber warum?“ Der Rettungsdienst läutet wenig später. Herr Müllner begleitet seine Frau ins Spital. Die Schwiegertochter hat noch rasch ein Täschchen mit dem Nötigsten gepackt. Das gibt sie Frau Müllner mit. Die Wartezeit im Spital ist enorm. Schließlich sieht sich ein Spitalsarzt die Pensionistin an. Blut wird abgenommen, das Fieber ist in den knapp zwei Stunden auf 37,4 gesunken. Keine Anzeichen eines Schlaganfalls, Frau Müllner ist wieder völlig bei sich und kann alle Fragen des Arztes verstehen und beantworten. Nach einem Lungenröntgen kann ein gröberer Infekt ausgeschlossen werden.
Gemeinsam mit ihrem Mann verlässt Frau Müllner am späten Nachmittag wieder das Spital. Noch etwas schwach und müde, aber im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte. – Bisweilen hat man bei manchen Ärzten das Gefühl, als müssten sie über Zauberkräfte verfügen, denn wie sonst könnte man aus über drei Meter Entfernung eine Diagnose stellen? Aber vielleicht irre ich mich da ja, vielleicht interessiert es den einen oder anderen Mediziner nicht immer, sich einen Notfall genauer anzusehen. Schließlich ist es viel einfacher, diese armen Leute ins Spital abzuwälzen, oder? Besonders dann, wenn man noch etwas vor hat!
© Vivienne