Die nicht mehr ganz junge Frau saß mir im Zug gegenüber, in einem halbleeren Waggon. Das Gesicht wirkte hart auf mich, manchmal fast versteinert, wenn sie die Lippen aufeinander presste. Ihr Blick verlor sich meist in der ländlichen Landschaft draußen, und ich beobachtete sie schon die ganze Zeit verstohlen. Ich war auf dem Weg zu meiner Schwester Bea und ihrem Mann Louis und da Ali sich nicht frei nehmen hatte können, hatte ich mich an diesem Tag allein auf den Weg ins Mühlviertel gemacht. Und die brünette Frau mit den grauen Strähnen im schulterlangen Haar war eine probate Zielscheibe für meine Beobachtungen geworden. Aber schließlich wandte ich mich ab und griff in die Handtasche – dort wusste ich meine Zigaretten und das Feuerzeug. Mit geschlossenen Augen sog ich genießerisch an der Zigarette, als mich unvermittelt die dunkle Stimme der Frau erreichte. „Könnte ich Ihr Feuerzeug leihen? Meines ist kaputt…“ Ich blickte sie an und bemerkte ein leises Lächeln, das ihre Lippen umspielte. Raucher unter sich… So dachte ich und zündete ihre Zigarette an.
Minuten später schon waren wir in ein angeregtes Gespräch vertieft. Es war fast bizarr, zu erkennen, wie sich die Züge der Frau plötzlich merklich entspannten, wie sie plötzlich jünger wirkte und vor allen Dingen nicht mehr so hart. Eine seltsame Vertrautheit entwickelte sich zwischen uns, die Frau erzählte mir, dass ihr Mann gestern verstorben war und sie auf dem Weg zu seinen – wie sagt man? – sterblichen Überresten war. „Oh, ich verstehe!“ entschlüpfte mir etwas unbedacht diese Phrase, aber mit einem Mal verzerrte sich das Gesicht der Frau wieder und sie schüttelte den Kopf. „Nein, Sie verstehen nicht, ganz sicher nicht…“ Ihr mit einem Mal verzweifelter Blick tat mir körperlich weh. „Nein, Sie verstehen nicht, aber wie sollten Sie auch?“ Ihre Stimme war mit einem Mal ganz leise geworden, gebrochen, und das Schweigen danach füllte das Zugabteil fast bedrohlich aus. Nach einigen Minuten begann die Frau zu erzählen, sie hatte sich etwas gefasst und schien sich nun eine Last von der Seele reden zu wollen, die sie bereits sehr lange zu bedrücken schien…
„Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das überhaupt erzähle. Wir kennen uns doch gar nicht… Sehen Sie, ich bin 48 Jahre alt, aber ich fühle mich steinalt, verstehen Sie? Ich habe den Fehler gemacht, vor über fünf Jahren den Fehler gemacht, auf andere Leute zu hören. Auf Menschen, die es wirklich gut mit mir gemeint haben. Ich habe auf sie gehört, wider mein Gefühl, aber ich habe geglaubt, dass sie recht haben würden.“ Die Frau wandte ihr Gesicht voll zu mir, ein paar Tränen schimmerten in ihren Augen. „Ich habe mit dieser Entscheidung, zu der man mich, sagen wir es ruhig, mit sanftem Druck gedrängt hat, mein Leben ruiniert. Ich glaube, ich werde nicht mehr glücklich sein können…“ Was die Frau danach berichtete, machte mich wirklich betroffen. Als nicht mehr ganz junge Singlefrau hatte sie im Web in einem einschlägigen Forum einen – so sagt man – jung gebliebenen Senioren kennen gelernt. Bald hatte sie den anscheinend kultivierten Mann getroffen, der auf eine große Familie und einige Kinder bzw. Enkelkinder aus unterschiedlichen Beziehungen verweisen konnte.
„Ich war fast fünfundzwanzig Jahre jünger als er und als sexuell aktiven Mann habe ich ihn lange nicht wahrgenommen, einfach weil er so viel älter war als ich. Und er war auch nicht unbedingt mein Typ, große Männer wie er verunsichern mich zudem meistens. Aber er machte mir unverdrossen den Hof, brachte mir Blumen und Geschenke mit. Und er lud mich immer wieder ein, mit ihm meine Zeit zu verbringen. Zuerst lehnte ich ab, bis auf die gelegentlichen Treffen mit ihm verweigerte ich großartige gemeinsame Touren.“ Die Frau zündete sich eine Zigarette an. Ihre Stimme zitterte. „Aber meine Freunde waren ganz anderer Ansicht. Sie drängten mich dem Werben des Mannes endlich nachzugeben: weil ich nicht mehr ganz jung war, weil der Mann gut situiert da stand und weil mir seine Familie die Familie sein könnte, die ich selber irgendwie verpasst hatte in meinem Leben…“ Die Frau starrte wieder aus dem Fenster. Ihre Stimme klang so, als würde sie ihr gar nicht mehr gehören. „Ich gab nach, obwohl mich ein seltsames Gefühl warnte. Es manifestierte sich vor allem in einer ein paar Jahre zurückliegenden Krebserkrankung des Mannes. Er hatte einen bösartigen Tumor an der Niere gehabt, schien aber völlig genesen zu sein.“
Ich blickte die Frau an. „Haben Sie ihn je geliebt?“ Die Frau schüttelte den Kopf, sie konnte zuerst nicht sprechen. „Nein, geliebt habe ich ihn ganz bestimmt nicht. Ich mochte ihn, das schon, trotz des Altersunterschiedes. Und darum zog ich schließlich zu ihm, und nach einem Jahr haben wir geheiratet.“ Wieder standen Tränen in ihren Augen und ein bitteres Lächeln ließ auch in meinen Augen eine Träne aufblitzen. Sie tat mir in diesem Moment so Leid… Irgendwann setzte die Frau ihre Geschichte fort. Ich hatte schon so eine Idee, wie die Dinge sich entwickelt hatten. Die Frau war von Anfang nicht glücklich mit dem alten Herrn gewesen, der ihr Vater hätte sein können. Ein Pensionist hat einfach ganz andere Interessen als eine Frau um die Vierzig, die mit einem Mal quasi auf das Altenteil verbannt gewesen war. Unversehens war sie auch mehrfache Oma geworden, musste die sexuellen Bedürfnisse eines Senioren stillen, der sich über die Anzahl seiner Orgasmen definierte und dazu fleißig Viagra schluckte. Und nebenbei auch immer bestimmte, was im Wesentlichen passierte – weil er nun mal der Herr im Haus war. Ein hartnäckiger Husten und relativ hoher Gewichtsverlust in kurzer Zeit, zuerst als Bagatelle abgetan, entpuppten sich schließlich als die Symptome von Lungenkrebs, Metastasen des besiegt geglaubten Nierentumors. Bösartig wie inoperabel, das stand schnell fest, und damit setzte erst der eigentliche Leidensweg der Frau ein. Die Familie des Mannes ließ sie mit der Pflege ihres Mannes völlig allein, ihr Job wurde neben der Betreuung des schwer kranken Mannes zu einer Leistung haarscharf am Rande des Möglichen…
„Meine Stiefkinder hatten immer behauptet, es wäre nicht möglich, eine Pflegestelle für ihn zu finden. Du schaffst das schon! Ich habe diesen Satz zu hassen gelernt. Schließlich wurde mir alles zu viel, ich erlitt einen Nervenzusammenbruch und war vier Wochen in Spitalspflege.“ Die Frau sah mich mit ihrem verweinten Gesicht an. „Dann habe ich ihn verlassen, böswillig wie man sagt. Ich konnte nicht mehr, und ich habe ihn gehasst… Plötzlich war es kein Problem mehr eine Pflegerin für meinen Mann aufzutreiben, die Kinder drängten mich zurückzukommen, aber ich wollte nicht. Ich wollte einfach nicht. Ich ertrug den Anblick meines eigenen Mannes nicht mehr, weil mir bewusst geworden war, dass ich mein Leben weggeworfen hatte.“ Sie schluchzte auf. „Weil man es so gut mit mir gemeint hat, weil man mich versorgt wissen wollte, weil mich doch jemand durch’s Leben geleiten sollte…“ Die Frau konnte nicht mehr fortfahren. Ich hatte ihre Hand ergriffen und drückte sie, nach einigen Minuten fing sich die Frau nicht nur wieder, sie war ruhiger, viel ruhiger als vorher. Es schien tatsächlich so, als hätte sie sich einige schwere Steine von der Seele gewaschen mit ihren Tränen und dieser Beichte. Ich selber wusste für mich genau, dass ich Ali nie verlassen würde, so krank könnte er gar nicht werden, aber ich liebte Ali, mehr als alles andere auf der Welt… Das allein machte den Unterschied aus. Gute Freunde – schlechter Rat! Mancher Besserwisser sollte wohl zuerst lange und gut überlegen, ob er überhaupt wusste was er sich anmaßte – mit seinen wohlgemeinten Ratschlägen…
© Vivienne