Henry – eine Weihnachtsgeschichte

„Tja Dich hatte ich heute nicht hier erwartet, Henry. Du lässt Dich ja kaum noch hier sehen. Umso mehr freue ich mich! Und einen Hund hast Du ja auch. Wie heißt denn der Kleine?“
Ulrich hatte so laut gesprochen, dass alle Köpfe an der Theke herumflogen und zwölf Augenpaare sich auf den eintretenden Henry stürzten.
Im Radio im Regal hinter der Theke verging sich Heino an der Haselnuss.

Ulrich sprach immer sehr laut. Doch die Tatsache dass er, Henry, hier in diese Schänke eingetreten war, sollte gar keinen Anlass für übertriebene Freude abgeben.
Die Freude eines Wirtes über einen sehr guten Gast war zwar verständlich, aber in seinem Falle völlig überflüssig.

Henry war weg vom Suff.

Er hatte den kleinen Ausflug seines Hundes Dingo wegen gemacht und die Tatsache, dass es überraschend zu regnen begann, hatte ihn seine Vorsätze, Kneipen nur mit seiner Angetrauten Christina zu betreten, mal wieder obsolet erscheinen lassen.
Obwohl, er hatte ganz anderes vor, als seiner früheren Leidenschaft zu frönen.

Henry war ganz weit weg vom Suff.

Er ging zur Theke und ließ im Vorbeigehen, seinen Mantel und den Hut am
Garderobenständer zurück.
Dingo zog an der Leine und wedelte mit dem Schwanz als er von einem der an der Theke stehenden mit Streicheleinheiten verwöhnt wurde.
Heinz, sein alter Kumpel aus längst verschwundenen Tagen. Gott sei Dank verschwundenen Tagen, wie Henry heute wusste.

Heinz, der nun sicherlich auch schon seit dem späten Vormittag hier die Stellung hielt, hier im „Paradies“, wie die Gaststätte hieß.

„Dingo, Dingo heißt der Kleine und der Kleine gehört Christina und ich führe ihn nur Gassi.“

„Dingo, ein Dackel?“

„Dackel, Du scheinst keine Ahnung von Hunden zu haben, Ulrich. Dingo ist ein echter Königspudel und wenn Du es nicht glaubst, frag einfach Christina, oder den Heinz hier.“

Truckstopp versuchten im Radio ihre Instrumente zu vergewaltigen.

Henry hatte sich Dingo zugewandt und dadurch dem neben ihm stehenden Heinz den Rücken zugewandt
Der hatte des kleinen Scherzes wegen ziemlich ungläubig geschaut und der Humor hatte sich ihm noch nicht ganz erschlossen. Und deshalb fasste er Henry an der Schulter und versuchte diesen umzudrehen um mit biergeschwängertem Atem zu fragen: „ Wie, das soll ein Königspudel sein ? Ich glaube Du bist besoffen Henry, so ein Königspudel ist doch ein kleines bisschen größer, oder?“
„Ich nicht aber Du, Heinz und trotzdem gebe ich Dir einen aus, Ulrich ein Pils und einen Radler.“

„Kommt sofort, Henry. Schon in Arbeit.“ Ulrich hatte ein solches Organ, das hätte früher wohl für mehrere Wirte gereicht, dachte sich Henry und winkte den anderen Thekenstehern zu.
Die meisten kante er noch aus früheren, feuchteren Tagen, die meist bis zum frühen Morgen dauerten.

Heute war es eine andere Feuchtigkeit, welche Henry in diesen Schuppen gebracht hatte.
War es früher eine innere, metaphysische Feuchtigkeit, so war es heute eine sehr physische, äußere Feuchtigkeit, die um diese Jahreszeit hier im Harz nicht ganz so normal zu sein schien.
Mitte Dezember und noch kein Schnee, nur Regen und Sturm.
Die Saison würde zwar wie in jedem Jahr erst um die Weihnachtszeit beginnen, aber wenn der Schnee ausblieb, Weihnachten?

Im Radio versuchte ein Experte die Umweltverschmutzung für den milden Winter verantwortlich zu machen

„Wie geht’s Deiner kleinen Zuckerschnute Christiana, Henry? Was machst Du denn den ganzen Tag? Geht Ihr Euch nicht ganz gewaltig auf den Senkel? Ich meine, zwei so liebenswerte Menschen in die gleiche Wohnung gesperrt und dann nur einen Hund. Wie lange habt Ihr den Königspudel mit den zu kurzen Beinchen und der fehlenden Naturkrause, dem Ihr auch noch den Namen eines mehrfachen Bundessiegers im Dackelclub gegeben habt?“

Ulrich war wieder mal besonders liebenswert und freundlich.

„Christina, Ulrich und Du als alter Dackelzüchter müsstest doch einen Pudel von einem Eichhörnchen unterscheiden können. Na gut das alt nehme ich natürlich zurück, du Dackel Du!“
„Ein Pils und ein Radler, wohl bekommts!“ Ulrich hatte die Getränke und sich selber vor Henry und Heinz aufgebaut und schaute verzückt auf Dingo herab, der es sich neben Henry auf dem Boden bequem gemacht hatte.

„Schönes Tier, sehr schöne Zeichnung und sehr klar in den Proportionen, klarer Blick und gutes Gehänge muss ich sagen, aus der Zucht von Witz? Könnt ich wetten!“

„Dingo von Witz zu Witzenhausen! Heißt aber eigentlich Korf von Witz zu Witzenhausen, gefiel aber Christina nicht, drum heißt er halt Dingo. Hat auch was von einem Dingo, auch wenn er Heinz eher wie ein Pony vorkommt.“

Ulrich hatte zwischenzeitlich den anderen durstigen Seelen „geistige Nahrung“ hingestellt und war zu Henry und Heinz zurückgekehrt und schaute wieder verliebt auf den Hund.
Ulrich, der wie er gerne erzählte, sein halbes Leben mit der Aufzucht von Teckeln verbrachte, hatte sich die Liebe zu den recht eigenwilligen Vierbeinern bewahrt, auch wenn er schon seit Jahren die Zucht aufgegeben hatte.

„Korf, der elfte Wurf des Rüden und absolut edelsten Geblütes, wer war die Hündin? Weißt Du was darüber, Henry?“ Ulrich war immer noch Züchter, so schien es.
„Na klar, alle Zuchturkunden vorhanden, Ulrich. Edelste Vorfahren, gehen zurück bis zu Kaiser Barbarossa. „

Ulrich lachte über das ganze Gesicht und er schaute noch verzückter auf den kleinen Kerl, der sich jetzt wie eine kleine Katze zusammengerollt hatte.
Der NDR machte auf sein Weihnachtskonzert auf allen Wellen aufmerksam.

„Was macht Ihr über die Feiertage, Henry? Bleibt Ihr im Lande, oder geht’s wieder nach Gran Canaria?“
„Wir müssen wahrscheinlich in den Kohlenpott, mein Oller wird 99 am vierundzwanzigsten, am Heiligabend und plant ne Riesensause und Christina lässt sich nicht erweichen und glaubt, ich müsse mit, obwohl ich lieber über die Feiertage mit Dingo durch den frischverschneiten Harz stiefeln würde. Aber Christina ist nun mal Lehrerin und gute Entschuldigungen helfen bei ihr nur wenig und bevor ich einen Krieg anfange, fahr ich schon lieber mit in den Kohlenpott. Auch wenn ich nachher wieder ne Sauerstoffdusche brauche, wenn wir wieder zurück sind. Wie konnte ich es nur aushalten im Revier, früher. Dort sterben die Säuglinge wie die Fliegen wenn die Mütter sie zum ersten Mal im Kinderwagen vor die Haustür schieben.“
„Kohlenpott, Saugegend ! Ist alles so schön schwarz da, wie Nina Hagen fand in ihrem Song, damals!“ Heinz hatte sich, wie es seine Art war, in das Gespräch gemischt ohne zu wissen um was es geht.
„Naja Henry, ob es mit dem Weihnachtsschnee heuer was wird, steht noch in den Sternen. Auf jeden Fall war es schon seit Jahrzehnten nicht mehr so warm um diese Zeit und ich habe schon jetzt Sorge um die Saison.
Aber Christiana hat schon Recht. Dein Vater hat den neunundneunzigsten Geburtstag und da gehört es sich, dass Du als Sohn da bist und ich glaube, dass Du das auch weißt.“

„Du hast Recht, Ulrich. Weihnachten im Harz ohne Schnee geht nicht, da schon lieber Schatten auf der Lunge im Kohlenpott und mach noch mal ein Bier für Heinz und dann möchte ich zahlen, bevor Christina das Suchkomando losschickt.“
Dingo schien jedes Wort verstanden zu haben und war sofort aufgestanden als Henry den Namen seiner Frau ausgesprochen hatte.

„Dingo, Du bist aber ein kleiner Königspudel. Musst ja noch ordentlich wachsen, Du Kleiner. Aber mach Dir nichts draus. Alle haben mal klein angefangen, sogar ich. Und schau mich an, ist etwa nichts aus mir geworden?“ Heinz hatte sich an den Hund gewandt, während Henry schon seinen Mantel anzog und den Hut aufsetzte.

„Heinz, aus Dir ist tatsächlich schon was sehr gutes geworden, allerdings weiß ich nicht, was Deine Eltern sich erhofft hatten, damals, als Du das Licht dieser Welt erblicktest. Aber Du hast Recht, jeder macht aus sich, was möglich ist. Ich habe auch erst spät diese Erkenntnis gehabt, gottseidank noch früh genug!

Nach einer kollektiven Rundumverabschiedung, verließ Dingo mit Henry im Schlepp das „Paradies“.

Nena weinte ihren neunundneunzig Luftballons nach.

„Neunundneunzig !“ dachte Henry, als die Kneipentür sich hinter ihm schloss und er feststellen konnte, dass es aufgehört hatte zu regnen.

(C) Chefschlumpf, wird fortgesetzt

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