Albert kam gegen 19:00 Uhr nach Hause. Ein langer Arbeitstag, es hatte wieder Probleme gegeben wegen eines neuen Programms… Albert fiel mir um den Hals, dann legte er sich auf die Couch und schaltete das TV-Gerät ein. Ich stellte ihm das Essen, Backhendel mit Pommes Frites, auf den Esstisch und drehte mich zu ihm. „Komm, das Essen wird kalt. Du musst doch hungrig sein…“ Ali gähnte, folgte dem Lockruf des Backhenderls und setzte sich. Ich nahm neben ihm Platz und streichelte über sein Gesicht. „Na. So müde?“ Ali nickte, dann nahm er das Mahl in Angriff. Das Essen machte ihn wieder munter. Zumindest schien es so…
„Die Arbeit hat sich heute wieder endlos gezogen“, begann Albert, heftig kauend, zu reden. „Ich dachte schon, ich gehe heute gar nicht mehr heim…“ Rossecker, der Chef wäre außerdem wieder sehr schlechter Laune gewesen. „Weil das Programm nicht so läuft, wie es sollte?“ wollte ich von ihm wissen. „Gar nicht so sehr“, antwortete mein Mann. „Das sind die Kinderkrankheiten. Aber Leo geht in Pension, habe ich heute gehört. Das wird Rossecker nicht passen.“ Leo war der oberste Chef der Lagerarbeiter, er kontrollierte und organisierte sie und ihre Arbeit. Mittlerweile musste der Mann mit den stahlblauen Augen auch fast sechzig sein, vielleicht auch schon drüber… ging mir durch den Kopf. Schließlich hatte ich den Mann einmal gekannt, als ich selber noch in der Firma gearbeitet hatte und das war mittlerweile bald zwanzig Jahre her. Die Zeit vergeht…
Albert hatte sich auf die Pommes Frites gestürzt. Mit Ketchup veranlassten sie ihn zu wilden Spielereien, die dann unser Tischtuch ausbaden durfte. Aber diesmal sah er mich lange an. „Kein Kommentar zu Leos Abgang? Bin ich nicht gewohnt von dir…“ Ich zuckte die Achseln. „Kein Ex-Kollege, an den ich mich gerne erinnere. Stur, eigensinnig und falsch. Der stand neben mir im Lift und sagte kein Wort, und fünf Minuten später beklagte er sich bei der Abteilungsleiterin Neumeier über mich. Dabei schielte der Mann so sehr, dass man nie sagen hätte können, ob er mich ansieht oder den Baum auf der anderen Seite…“
Albert grinste. Er steckte sich ein Pommes Frites mit viel Ketchup in den Mund. „Gib zu, darum geht es dir doch gar nicht. Natürlich ist Leo ein sturer Eigenbrötler, er war nie anders. Und wundern darf es niemanden, dass er so ist.“ Ali grinste. „Er war nie verheiratet, und hatte, was ich weiß, nur einmal eine Freundin. Das Ganze lief nicht lange. Gib zu, so ein Mann kann sich nicht normal entwickeln. Er wird folglich verschroben und ganz und gar nicht umgänglich.“ Mein Mann schob den Teller weg, er war satt. „Dir geht es nur um die Sache mit der CD, obwohl es schon so lange her ist.“
Ich wandte mich ab. Natürlich resultierte meine Antipathie für Leo genau aus dieser Angelegenheit. Und nicht etwa, weil ich so schrecklich nachtragend war (was ich bis zu einem gewissen Grad tatsächlich bin), sondern weil mich Leo damit in ein etwas schiefes Licht manövriert hatte. Und das wurmte mich – wer lässt sich schon gerne als Diebin hinstellen? Ali konnte in meinen Gedanken lesen. Er griff nach meiner Hand und hielt sie fest. „Glaub mir, Vivi. Leo ist im Grunde ein armer Teufel. Überleg nur, wie er lebt so als Mega-Single. Und er wollte sicher nicht vorrangig dich schlecht machen sondern Max ärgern…“ Die ganze Geschichte fiel mir wieder ein, sie war auf einmal so real, als wäre sei gestern erst passiert.
„Mein Mitleid hält sich in Grenzen“, konnte ich meinen Unmut kaum verbergen. Kollege Max hatte mir eine CD von Bon Jovi geliehen. Ich war damals Fan und freute mich sehr darüber. Wie damals so üblich kopierte ich sie mir auf Kassette. Kaum mehr vorstellbar, wenn man die heutigen Möglichkeiten bedenkt. Als ich die CD wieder zurückgeben wollte, wurde der Kollege krank. Eine Blinddarmentzündung. Das war ärgerlich, denn ich wollte die CD nicht so lange behalten. Da fiel mir ein, dass Leo und Max beide aus Steyr waren. Und ich nahm mir ein Herz und fragte Leo, ob er ihm nicht die CD bringen konnte…
Sehr erfreut sah Leo nicht aus. Wie ich erst später erfuhr war er auf Max nicht gut zu sprechen. Da hatte es offenbar gröbere Differenzen gegeben. Aber Leo versprach mir trotzdem, dafür zu sorgen, dass die CD beim Kollegen ankam. Eine Lüge, wie sich herausstellte. Seine CD bekam Max nicht mehr und er war sehr sauer auf mich. Die Optik war schlecht. Leo hatte die CD wohl einfach weggeworfen, aber ich konnte es nicht beweisen und sah wie eine Diebin aus…
Später saßen wir, Ali und ich, auf der Couch. Ich hatte den Kopf auf seine Schulter gelegt und er den Arm um mich. Wir sahen fern und doch auch nicht, denn mein Mann redete weiter auf mich ein. „Natürlich war das fies, das ist keine Art. Etwas versprechen und dann alles bestreiten. Kein feiner Zug, aber gebracht hat es ihm nichts. In seiner Arbeit ist er gut, aber im Grunde ist er ein verbitterter alter Mann. Im Ruhestand wird ihm die Decke auf den Kopf fallen…“ Ich schwieg und schloss die Augen. Mochte sein, dass Albert Recht hatte, aber von Menschen wie Leo hielt ich nichts. Zu einfach all das mit seinen Lebensumständen zu entschuldigen…
Vivienne