Mauderle zieht weg – Lit Split

Stiefel, die über hölzerne Treppenstufen trampeln. Mutter sieht sehr ängstlich aus. Obwohl es im Zimmer noch ziemlich dunkel ist, kann ich ihre weit aufgerissenen Augen sehen. Ich presse mich an sie.
Lautes Poltern im Flur.
Eine harte Faust schlägt an die Wohnungstüre.
Heiseres Gefluche da draußen.

„Macht sofort auf! Wir wissen, dass Ihr da seid! Los, sofort aufmachen!“
Es ist nun Mutter, die mich ganz feste an sich presst. Ich versuche trotzdem weiter zu atmen. Es gelingt nur unter Anstrengung.

„Mauderle, Du brauchst keine Angst zu haben. Alles wird gut!“
Ich habe aber Angst, Mutter!

Sie nennt mich schon wieder Mauderle. Das tut sie immer nur bei ganz bestimmten Gelegenheiten. Etwa, wenn ich mal wieder „Sabbelwasser“ getrunken habe, wie sie es nennt.
Oder, wenn es einen Brief von der Schule gibt.

„Dass Du aber auch nie Deine Klappe halten kannst, Mauderle, Du quasselst alle um Dich herum in die tiefste Bewusstlosigkeit.“

Jetzt ist mir aber gar nicht nach quasseln zu Mute, Mutti. Ich habe einfach nur Angst.
Vater erscheint imTürrahmen. Sein Haar hängt ihm wirr ins Gesicht.

„Nein Hugo, bitte nicht!“
Mutters Stimme überschlägt sich. Kurz lockert sich ihr Griff. Ich nutze meine Chance und atme tief ein.

„Es ist bestimmt besser, Klara, die zerhauen uns noch die Türe.“
Er verschwindet wieder.
Mutters Griff wird kräftiger. Muss ich jetzt schon sterben?

Sie waren ganz früh am Sonntagmorgen in unser Haus gestürmt. Ihre genagelten Stiefel machten einen Höllenkrach. Dabei waren sie über die erst einen Tag vorher gewachsten Dielen getrampelt.
Große, grobe Kerle in braunen Uniformen. Ihre Kappen waren unter dem Kinn mit Lederriemen zusammen gebunden.
Ich hatte solche Männer schon des Öfteren gesehen. Sie patroulierten seit einiger Zeit durch die Straßen unseres Viertels der Hauptstadt. Es war auch schonmal zu Aufmärschen auf den unzähligen Plätzen der Stadt gekommen.
Obwohl einige meiner Schulfreunde davon geschwärmt hatten, ihre Väter hatten sie wohl dorthin mitgenommen, hatte mir Mutter strikt verboten, das Schauspiel auch nur anzusehen.
So hatte sie gemeint, das Schauspiel!
Dadurch bin ich erst richtig neugierig geworden. Bin natürlich auch sofort beim nächsten mal hin.

Schauspiel war auch wirklich nicht gelogen.
Sie waren dann mit Fahnen und Trommeln vor unserem Haus vorbei marschiert. Die anderen Kinder standen mit offenen Mündern da und staunten. Genauso wie ich.

Am Marktplatz stellte sich einer vor sie hin und schrie etwas, das ich kaum verstehen konnte.
Das war im letzten Jahr gewesen.

Das Getrampel steigert sich jetzt noch. Ich höre Vaters Stimme. Er klingt ganz ruhig. Einer schreit ganz laut zwei Worte, die ich auch in der Schule schon des Öfteren gehört habe.

„Juda, verrecke!“
Mutter weint still in sich hinein. Ich kann jetzt aber wieder besser atmen.

„Kirschstein? Bist Du der Jude Ignatz Kirschstein? Du kommst jetzt sofort mit!“
Es ist einer in einem schwarzen Ledermantel, der Vater so anschreit. Im Flur brennt Licht. Ich kann ihn und Vati sehen.
Zwei Uniformen drängen in mein Kinderzimmer. Einer zeigt auf Mutti und mich.
Ich kenne nur das Kaufhaus Kirschstein. Da ist meine Puppe Betty her.

„Da ham wa ja das verdammte Judenpack! Alle traute versammelt, Herr Hauptkommissar. Los, aufstehen! Aba an bisschen dalli!“
Ich höre Vater ganz aufgeregt schreien. Er beteuert nicht Ignatz Kirschstein zu sein.

„Ja, dann kannste Dich doch wohl auch ausweisen, wa!“

Deutschland und Juden und Nation und Heimat waren Begriffe, die ich auch schonmal zu Hause gehört hatte.
Ich kannte viele Juden. Die meisten Ladenbesitzer waren ja auch Juden. Wir aber waren keine Juden. Mutter und ich waren evangelisch und Vater war gar nicht getauft, wie ich mal erfahren hatte.
Im letzten Jahr hatte ich von der Volksschule auf das Goethe-Gymnasium in Mitte gewechselt.
Mein neuer Lehrer war vor die Klasse getreten und hatte uns mit hochrotem Kopf erzählt, dass nun bald die Schmach von Versailles umgekehrt würde und der Franzmann schön die Schnauze halten solle, sonst gäbs ganz bestimmt Krieg.

Als ich abends davon erzählte, hatte Vati seine Hände in Richtung Kronleuchter gereckt und ganz laut aufgestöhnt. Dabei murmelte er immer nur den einen Satz:
„Adolf, Du bringst uns noch alle um!“
Mutters Gesicht wurde dabei so blass, wie ihre Küchenschürze.

„Krieg, Hugo, Du glaubst, es wird wieder Krieg geben?“
Vater schaute erst auf mich, dann auf Mutti. Dann sagte er, und seine Hände ballten sich dabei zu Fäusten:
„Da kannst Du drauf wetten, Klara! Und diese Wette kannst Du gar nicht verlieren.“
Dann hatte er sich zu uns aufs Sofa gesetzt und seinen Kopf auf die Fäuste gestützt und seine Ellenbogen auf seine Knie.

„Hugo Ballhaus, der Komunist? Da haben wir ja einen ganz feinen Volksgenossen? Ballhaus der Mann von der KP?“
Vater schaut den Ledermann nur an. Er scheint unfähig, zu antworten.

„Eine Kommunistensau! Auch nicht schlecht, Herr Specht! Aber Dich suchen wir heute ja gar nicht. Du bist ja noch gar nicht an der Reihe. Da muss unser Führer ja erst noch im Reichstag kräftig aufräumen. Aber verlass Dich drauf, Du kommst schon noch dran.“

„Los Leute, glaube, wir ham uns in der Adresse jeirrt. Det hier sind Freunde vom ollen Stalin. Die ham noch Schonfrist. Da müssen erst die Lager noch jebaut werden. Abmarsch, sach ich.“
Wieder Getrampel auf der Treppe. Nur diesmal entfernen sich die Knobelbecher in Richtung Parterre.

Etwa fünf Minuten ist absolute Ruhe. Mutti zuckt und schluchzt. Vati steht nur da, an den Türrahmen gelehnt. Er atmet schwer.

„Los Klara und Puppie, packen! Wir müssen sofort hier weg! Diese Kerle kommen wieder. Theo muss uns bis zur Grenze bringen. Von da ab können wir uns durchschlagen.“
Es scheint nun wieder Leben in Vater zu sein.

„Und was wird dann aus unserer Kleinen hier? Sie geht doch jetzt aufs Gymnasium!“
Mutti drückt mich schon wieder ganz feste.

„Das muss jetzt sein, Klarachen. Wir haben hier nichts mehr verloren. Und Du wirst sehen, in Moskau gibt es auch gute Gymnasien.“
Vater spricht ganz ruhig, beinahe weihevoll.
Eine Stunde später drücke ich meine Puppe Betty ganz feste.

Wir sitzen in Onkel Theos Wanderer. Er ist der Fahrer von irgendso einem großen Tier bei der AEG hier in Berlin und darf das Auto sogar am Wochenende mit nach Hause nehmen..
Vater hat ihn immer mit dem dicken Auto aufgezogen und Onkel Theo belustigt gefragt, was wohl so schön sei, einen Bonzen von der AEG durch die Gegend zu schaukeln, wenn es für deren Arbeiter noch nicht mal für ein vernünftiges Fahrrad reicht.

Bei all dem Ärger, den Vater dadurch in Onkel Theo auslöste, ist er doch gerade jetzt sehr froh über diesen Bonzen bei der AEG.
Und ich, Mutti und meine Betty auch.

Nur, die Schule in Moskau ist es, die mir nun Angst macht.

(© 2016 Tango A. Romeo, Chefschlumpf in Zeiten die zur Vorsicht gemahnen!)

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