DIE BUNTE WELT VON VIVIENNE
von Vivienne – Dezember 2003
Aufregung um Martin
Eine Weihnachtsgeschichte
Jeder von uns kennt das: vier Wochen werden wir auf den Heiligen Abend getrimmt: sollen fleißig Geschenke besorgen, verausgaben uns bei diversen Weihnachtsfeiern, streiten bei der Wahl des Christbaums und gesellschaftliche Verpflichtungen wie zum Beispiel diverse Adventsingen sollen auch noch eingehalten werden. Ja, und plötzlich ist es Heilig Abend, die Erwartungen sind hoch, die letzen Besorgungen werden gemacht, es wird groß aufgekocht und plötzlich steht man unter der Blautanne und singt Ihr Kinderlein kommet und Weihnachten ist gelaufen. Der eine oder die andere ist glücklich mit den Präsenten, manch einer kämpft aber, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Und dass das ganze Jahr nicht so viel gestritten wird wie unter dem Weihnachtsbaum, brauche ich Ihnen, liebe Leser, sicher nicht erzählen…
Trotzdem kann aber Weihnachten bisweilen auch eine fast dramatische Wendung nehmen. Vielleicht ist Ihnen aus meiner vorjährigen Weihnachtsgeschichte noch der Christbaumbrand in Erinnerung. Gott sei Dank hielt sich der Schaden damals in Grenzen. Dennoch sind es derartige Ereignisse, die einem einmal mehr vor Augen führen, wie gut man es eigentlich hat. Wie dankbar mensch sein sollte, wenn sich die Weihnachtszeit auf den üblichen Stress und die mangelnde Besinnlichkeit beschränkt.
Martin ist der älteste Sohn meiner jüngsten Schwester Renée. Sein Vater hatte Renée verlassen, als Martin noch ein kleines Kind gewesen war. Alles in allem keine Beziehung, auf die meine kleine Schwester sehr positiv zurückblickt, aber diese Liebe war anscheinend nicht für die Ewigkeit bestimmt gewesen. Vor fünf Jahren hat Renée schließlich auch geheiratet und mittlerweile zwei Töchter mit Francois, ihrem Mann. Trotzdem ließ sich nicht vermeiden, dass der kleine Martin sich in der neuen Familie seiner Mutter ein wenig wie das fünfte Rad am Wagen vorkam. Und das Verhältnis zu seinem Stiefvater ist auch nicht das Beste, wie sollte es auch anders sein.
Fantastisch versteht sich unser Martin hingegen mit meiner anderen Schwester, Beatrice, und ungewöhnlich ist auch die Art und Weise, wie er Beas Mann, Louis, zu einer Art Ersatzvater adoptiert hat. Aus dem Grund verbringt Martin auch so viel Zeit wie möglich bei seiner Tante und seinem Onkel. Und auch vor einigen Jahren im Advent, als gerade Martins erste Schwester geboren worden war, hatte Martin so lange gebettelt, bis er das Wochenende vor Weihnachten bei Bea und Louis verbringen durfte. Renée war im Grunde froh darüber, weil es ziemlich geschneit hatte, sie aber wegen des Babys einfach keine Zeit hatte, mit ihrem Buben rodeln zu gehen.
Am 4. Adventsonntag wollte die halbe Verwandtschaft zu uns stoßen, es gab so knapp vor Weihnachten auch noch etliche Geburtstage zu feiern. Bea und Louis wollten sich mit Martin im Haus meiner Eltern mit Renée und ihrer Familie treffen, und der Bub sollte dann wieder mit seiner Mutter und dem Stiefvater heimfahren. Ich selber wollte auch am Vormittag zu meinen Eltern kommen um meiner Mutter noch bei den Kochvorbereitungen zu helfen. Nur keine Hektik aufkommen lassen. Aber genau das ließ sich nicht vermeiden, denn eben bevor ich meine Wohnung verlassen wollte, läutete mein Telefon. Viv! keuchte meine Schwester Beatrice. Martin ist verschwunden!
Ich bekam eine Gänsehaut. Was war da passiert? Bea erzählte mir kurz, dass Louis noch mit Martin rodeln war. Als er kurz ins Haus ging, blieb Martin vielleicht zehn Minuten allein vor dem Haus. Zehn Minuten, in denen der Bub fast in Sichtweite war, aber eben doch zehn Minuten zu viel, denn als Louis seinen Neffen hereinholen wollte, war der verschwunden gewesen. Vielleicht fünf Gehminuten vor dem Haus der beiden läuft ein kleiner Bach vorbei, dorthin führte Bea und Louis ihre Suche als erstes hin. Zwar gab es keine eindeutigen Fußspuren von Martin dort und auch keinerlei Hinweise, dass ein kleiner Bub von sechs Jahren dort vielleicht hineingestürzt wäre, aber beruhigt waren die beiden deswegen noch lange nicht.
Die Straße führte auf der anderen Seite direkt in den Ort. Und dort gab es halt auch Autos und Verkehr, von möglichen suspekten Personen wie Triebtätern oder Ähnlichem, denen Martin dort in die Hände hätte fallen können, gar nicht zu reden. Während sich Louis auf den Weg in die Gemeinde machte, hatte Bea zum Telefon gegriffen und mir alles erzählt. Ich merkte, sie war ziemlich fertig. Verständlich, und darum akzeptierte ich auch Beas Wunsch, ich möge zumindest im Moment niemandem etwas davon erzählen. Die ganze Familie in Aufruhr? Mit einem unguten Gefühl machte ich mich mit dem Auto auf den Weg zu meinen Eltern. Mein damaliges, altes Handy legte ich auf den Nebensitz.
Wie vereinbart verlor ich kein Wort darüber, dass Martin sozusagen verschollen war, aber es war nicht leicht. Ich war geistig völlig abwesend und selbst meiner Mutter fiel das auf. Sie fragte mich mit besorgtem Gesicht, ob ich wieder Kummer wegen eines Mannes hätte. Ich hatte damals keinen Freund und mir war schleierhaft, wie sie darauf kam, trotzdem nickte ich mechanisch. Hauptsache, sie fragte mich nicht aus. Das Handy schwieg weiter und ich bekam Bauchweh, wie immer in solchen Stresssituationen. Mein Vater hatte vor wenigen Tagen erst seinen 70er gefeiert, meine Mutter war im selben Jahr 65 geworden und erst gestern hatte Bea die Geburtstagskerzen ausblasen dürfen. Übermorgen war Heiliger Abend. Und heute?????
Die Türglocke riss mich aus den Gedanken. Ich öffnete Renée und Francois und küsste beide zur Begrüßung. Vorsichtig nahm ich die kleine Elise in den Arm, ganz rosa angezogen und fest eingepackt, denn draußen hatte es wieder zu schneien begonnen. Wo ist denn Martin? Renée sah sich um. Sind Bea und Louis noch nicht da? Ein Stau! Ich hatte mich vorbereit, darum ging mit die Lüge leicht von den Lippen. Gerade lief im Radio, das es einen Unfall dort gegeben hat. Hm? Mein Schwager zog die Stirne kraus. … hab aber nichts davon gehört. Wo lief die Verkehrsmeldung? Ö3? Ich war selbst überrascht wie schnell ich reagierte. Aber geh! Bei den Eltern läuft doch nur Ö2, das weißt du doch! Außerdem Ö3 da wird man doch nur über die Staus in Wien informiert.
Francois schien momentan zufrieden gestellt und im verständlichen Getümmel um Renées Baby fand ich die Zeit, mit dem Handy schnell bei Bea anzurufen. Aber vergeblich, niemand hob ab… Ich schickte ein Stoßgebet in den Himmel, ich weiß nicht mehr, was ich Gott alles versprach, wenn dem Buben nur nichts passiert war. Dann flüchtete ich in die Küche, stellte die Kekse auf den Tisch und bereitete Kaffee in der Kaffeemaschine. Mit vorgetäuschter Fröhlichkeit rief ich die Familie zusammen. Die Rindsrouladen dauern noch! Kommts, wir trinken einen Kaffee, Bea und Louis müssen dann ja auch kommen. Es gab mir einen Stich, als ich mein Gschichtl herunterbetete.
Ich sah auf die Uhr, 12:30 Uhr. Die Kaffeemaschine begann zu brodeln, ich stellte das Service auf den Tisch und zuckte zusammen, als das Festnetz meiner Eltern läutete. Ich drängte mich an meinem Vater vorbei zum Apparat und hob ab. Bea. Wir haben ihn. In einer halben Stunde sind wir da. Bitte, sag nichts. Das Auto? Fast verblüfft über mich selbst hörte ich mir zu, wie ich das nächste Gschichtl auftischte. Na, Gott sei Dank, jetzt läuft es wieder. Du, Renée und Francois trinken Kaffee…. das Baby ist echt entzückend. Beeilt euch, sonst bleiben euch keine Kekse! Danke! sah ich Bea förmlich grinsen. …ich erzähl dir dann alles! Bis später!
Mein Vater, der bei den ersten Sätzen noch neben mir gestanden hatte, war mittlerweile schon wieder in der Küche und ich hörte ihn, wie er erzählte. ..das Auto hat was gehabt, aber sie kommen gleich. Ich hatte kaum Zeit, mich über die Nachricht zu freuen. Langsam ging ich in die Küche und tischte das nächste Märchen auf. Das Auto ist nicht angesprungen. Ausgerechnet jetzt, aber sie haben es wieder hinbekommen. Ist noch eine Tasse Kaffe für mich da? Kaum jemand hörte mir zu, ich war froh, denn ich hatte kein gutes Gefühl bei den ganzen Notlügen, die ich heute schon zum Besten gegeben hatte. Aber der Zweck heiligt die Mittel…
Bea, Louis und Martin trafen nach einer Weile ein und Martin machte auf mich keinen geschockten oder verletzten Eindruck. Irgendwann im Laufe des Nachmittags erzählte mir Bea bei einer Rauchpause kurz, dass der Bub tatsächlich auf dem Weg ins Dorf gewesen war. Dort war er zufällig – oder Gott sei Dank einem Gendarmen in die Arme gelaufen. Martin hatte die Leute auf dem Gendarmerieposten mit seiner altklugen Art bestens unterhalten, weil er ständig verlangt hatte, unbedingt zu seiner Tante Vivi oder seiner Tante Bea gebracht zu werden. Dass es trotzdem dauerte, bis Bea den Buben wieder in die Arme nehmen konnte, lag daran, dass er den Namen von Bea und Louis nicht nennen hatte wollen. Ein Anruf von Louis, der gerade um die Zeit nur pro forma nachfragen hatte wollen, brachte dann die Geschichte ins Rollen…
Zehn Minuten später hatten die beiden den Buben abgeholt und sich sofort auf den Weg zu uns gemacht. Nichts Schlimmes, ein Sturm im Wasserglas im Grunde, trotzdem hatte mich die Geschichte mitgenommen, von Bea und Louis erst gar nicht zu reden, und außerdem war ich in Sachen Lügen zur Mehrfachtäterin geworden. Aber was zählte das alles schon angesichts der Tatsache, dass Martin nichts passiert war. Ein kleines Weihnachtswunder von dem nur wir drei, Bea, Louis und ich wussten, und von dem auch niemand sonst je erfahren sollte. Es gibt auch sehr schöne Wunder, von denen man nie genaue Kenntnis erhält, durch die einem aber großes Glück widerfährt, und deren genauen Umstände man dennoch nie hinterfragen sollte… Sie verlieren sonst ihren Zauber.
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