Neue Bohnen Zeitung


DIE BUNTE WELT VON VIVIENNE
von Vivienne  –  Juli 2003



Auf der Jagd nach der rosa Brille…

Eine Brille, eine Brille zum Lesen nämlich, ist für manche Menschen unverzichtbar: um lesen zu können, um Personen zu erkennen, um unabhängig und nicht auf fremde Hilfe angewiesen zu bleiben. Auch meine Mutter ist seit einigen Jahren Brillenträgerin. Bei ihr ist die Sehschwäche nicht ganz so arg, aber um im Telefonbuch eine Nummer heraus zu suchen oder in der kleinformatigen Tageszeitung zu blättern, braucht sie ihren Sehbehelf: eine ganz normale, schlichte hellrosa Brille, unscheinbar, aber immens wichtig in ihrem Leben. Für Kleinigkeiten nämlich, auf die unsereins keinen Gedanken verschwendet, weil wir Normalsichtige unserer Fähigkeit zu sehen als viel zu selbstverständlich ansehen…

Neulich in der Arbeit, kurz vor Dienstschluss, rief mich meine Mutter auf dem Handy an. Sie war völlig fertig, und rang nach Worten: „Ich habe meine Brille heute in Linz liegen  gelassen… du musst mir helfen…“ Nach und nach erfragte ich von ihr, was sich zugetragen hatte. Meine Eltern waren am Vormittag mit dem Zug nach Linz  gefahren und hatten dort verschiedene Einkäufe erledigt. Außerdem hatten sie Geburtstagsgrüße an eine Cousine meines Vaters zur Post gebracht. Die Adresse der Verwandten hatte meine Mutter erst auf dem Bahnhofspostamt auf den Umschlag geschrieben. Deshalb vermutete sie, wie sie mir versicherte, dass sie die Brille dort liegen gelassen hatte. Ob ich nicht….

Ehrlich gesagt, ich hatte wenig Freude mit dieser Bitte. Ich wusste genau, ich würde deshalb einen Zug später heimkommen, aber meine Mutter klang so verzagt, dass ich ihr versprach, am Bahnhofspostamt nachzufragen. Natürlich war die Bim übervoll, natürlich kam nach der Linie 1 weit und breit keine Linie 3, die direkt zum Bahnhof fährt, weswegen ich mich schließlich zu Fuß und bei großer Hitze auf den Weg machte. Ich betrat verschwitzt das Postgebäude, fragte beim Portier, fragte bei den Schaltern – ergebnislos. Der Portier zeigte mir zwar eine abgegebene Brille, aber es war nicht die meiner Mutter, wie ich feststellen musste. In diesem Moment läutete wieder das Handy. Meiner Mutter hatte die Ungewissheit keine Ruhe gelassen. Ihre Enttäuschung war groß, als ich ihr von dem Reinfall auf der Post erzählte. „Ich war so sicher, du wirst sie finden…“

Ich kann keine Wunder wirken, dachte ich leicht verärgert bei mir. Was mir erst in diesem Augenblick so richtig bewusst wurde, war, dass meine Mutter im Grunde überall die Brille verloren haben konnte: auf dem Weg von der Post zum Bahnhof, am Bahnhof selber, im Zug… Eine Suche wie nach einer Nähnadel im Heuhaufen. Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, riss die Verbindung  zum Festnetz meiner Eltern ab. Das kam mir nicht ungelegen, ich wollte erst mal in aller Ruhe nachdenken, was ich noch versuchen könnte, um die Brille doch noch zu finden. Und zwar im Zug – mit einem Blick auf die große Uhr am Bahnhof hatte ich nämlich festgestellt, dass mein nächster Zug in 5 Minuten abfahren würde. Also hastete ich zum Bahnsteig und ließ mich gerade noch rechtzeitig in einem leeren Viererabteil  nieder.

Natürlich, überlegte ich, während sich der Zug langsam in Bewegung setzte, auch wenn meine Suche erfolglos bleiben würde: der Optiker meiner Eltern hätte in einer Woche problemlos eine Ersatzbrille bei der Hand. Die paar Tage bis dahin würden für meine Mutter zwar unangenehm sein, aber im Grunde wäre das Problem ein temporäres, noch dazu wo sie nicht wirklich extrem fehlsichtig war. Diese Möglichkeit blieb ihr immer noch, wenn meine Bemühungen scheitern sollten. Aber bis dahin wollte ich noch ein paar Möglichkeiten ausloten. Die nächste Idee von mir veranlasste mich, am Linzer Bahnhof anzurufen. Doch da sollte ich zunächst einmal meine blauen Wunder erleben. Ich wurde nämlich, da alle Leitungen besetzt waren, gleich zum Wiener Westbahnhof verbunden, wo sich eine schnippische Dame meldete.

Meine berechtigten Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieser Vorgehensweise (das Weiterleiten nach Wien) interessierten diese ÖBB-Bedienstete nicht. Nach endlosen Diskussionen, schließlich wollte ich das Fundamt am Linzer  Hauptbahnhof und keine Verbindung nach Wien, überließ mir die Dame die Durchwahl des Fundamtes. „Das Fundamt ist aber schon geschlossen, rufen Sie deshalb morgen früh wieder an!“ Großartig, ÖBB-Bediensteter am Fundamt müsste man sein, dachte ich verärgert und auch ein wenig ungerecht bei mir. Warum einfach, wenn es auch umständlich geht. Gut, dass ich wenigstens nicht auf der Bahnhofsbaustelle nach dem Fundamt gesucht hatte: Zug weg, und Fundamt geschlossen! Langsam setzte ich mich nämlich ernsthaft mit dem Gedanken auseinander, dass ich die Brille nicht mehr finden würde. Wo immer ich es versuchte, gab es unerwartete Hindernisse oder Fehlversuche. Es würde nicht einfach sein, das meiner Mutter beizubringen…

Kurz vor meinem Bahnhof kam der Schaffner in mein fast leeres Abteil um die Tickets zu kontrollieren. Ich fasste mir ein Herz und bat ihn um Hilfe. In einer Kurzfassung erzählte ich ihm den Sachverhalt und fragte ihn, wo eine im Zug vergessene Brille normalerweise hingebracht wird. Der nette Schaffner mittleren Alters, ein Herr Neumüller, wie ich an seinem Namensschild lesen konnte, hob in leichter Konfusion die Arme: „Das sieht schlecht aus. Fundsachen gehen nämlich nach Wien, zum Südbahnhof.“ „Nein!“ Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. „Das gibt’s doch nicht. Und wozu gibt es dann ein Fundamt am Linzer Bahnhof?“ Herr Neumüller widersprach: „Es gibt zur Zeit kein Fundamt am Linzer Hauptbahnhof!“ Mein Gesicht wurde immer länger. „Aber ich hab doch grad telefoniert und eine Durchwahl bekommen.“ Kurz berichtete ich von dem Gespräch mit Wien. Herr Neumüller zuckte halb resignierend die Achseln. „Die in Wien wissen viel nicht…“

Es ist aus, ging mir durch den Kopf. Aber trotzdem hakte ich noch einmal nach. „Was kann ich jetzt noch tun, was würden Sie mir raten?“ Der hilfsbereite Schaffner dachte kurz nach. „Wissen Sie was, wann steigen Sie aus?“ „Jetzt dann, in St. Georgen, am Bahnhof.“ „Sehr gut.“ Herr Neumüller nickte zufrieden. „Dann gehen Sie am besten gleich zum Bahnhofsvorstand und ersuchen ihn, dass er für Sie intern mit dem Endbahnhof des Zuges, in dem ihre Eltern waren, telefoniert. Vielleicht ist die Brille abgegeben worden bei ihm, und dann könnte man sie einem Zugführer mitgeben und an Ihrem Bahnhof dem Vorstand aushändigen. Es ist eine Möglichkeit.“ Dieser Vorschlag gefiel mir, das machte Sinn und den Bahnhofsvorstand zu fragen kostete ja nichts. Ich bedankte mich freundlich beim Schaffner und stieg aus.

Den ÖBB-Beamten, der an diesem Tag Dienst hatte, Herrn Brandner, kannte ich schon seit meiner Schulzeit. Ich ging schurrgerade auf ihn, der gerade den Zug abgefertigt hatte und deshalb noch vor dem Bahnhofsgebäude stand, zu und fragte ein wenig kokett: „Darf ich ein bissel unverschämt sein?“ Der Bahnhofsvorstand lachte und fragte zurück: „Worum geht’s? „Wissen Sie“, begann ich meine Erklärung, „ meine Mutter hat womöglich ihre Brille heute Vormittag im Zug vergessen…“ „Halt!“ unterbrach mich da Herr Brandner kurz. „Die Brille hab ich da.“ Er ging die paar Schritte in sein Büro und kam mit der rosa Brille in der Hand wieder heraus. „Die hat heute Mittag jemand abgegeben…“

Wie heißt es so schön? Aufgeben soll man nur einen Brief….

Vivienne

 

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