Neue Bohnen Zeitung


DIE BUNTE WELT VON VIVIENNE
von Vivienne  –  November 2003



Vom Loslassen können, Teil 3

Keiner beschäftigt sich gern mit dem, was unausweichlich irgendwann auf uns zukommen wird: nämlich dem Tod. Es wird gewitzelt darüber, philosophiert und diskutiert, aber im Grunde ist es dem Durchschnittsmenschen unangenehm, sich mit dem Ende seines Lebens auseinander zu setzen. Der viel geäußerte Wunsch nach einer „schönen Leich“ drückt die Hilflosigkeit dem Unausweichlichen gegenüber nur ungenügend aus. Die Frage, was nach dem Tod kommt, beantwortet wieder jeder für sich anders. Manch einer ist überzeugt, es gibt kein Leben nach dem Tod, andere sind sich wieder felsenfest sicher, aber Gewissheit hat der Mensch keine. Es wird in jedem Fall eine Überraschung sein, ob der Mensch jetzt von einer himmlischen Heerschar empfangen wird oder gar wiedergeboren neu in diese Welt zurückkehrt. Meine heutige Geschichte wird Ihnen, liebe Leser, bei der Wahrheitsfindung auch nicht wirklich behilflich sein, Ihnen aber unter Umständen zeigen, welche Auswüchse das Unvermögen, sich vom Leben zu verabschieden, auslösen kann.

Vielleicht ist es Ihnen ja auch in meinen Erzählungen aufgefallen: Vivienne hat immer wieder erwähnt, das sie vor einiger Zeit in Salzburg gelebt hat. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, einmal näher auf diese Episode meines Lebens einzugehen. Ich lebte in einer WG mit drei Mädels: bestehend aus zwei Studentinnen, einer junge Frau, die in einer Boutique arbeitete und eben mir, die ich mich nicht wirklich für etwas entscheiden konnte und von Gelegenheitsjobs lebte. Es war recht beschaulich in unserer Wohngemeinschaft, vor allem, da wir nur wirklich selten alle vier gleichzeitig anwesend waren und uns somit auch nicht auf die Nerven gehen konnten. Ich genoss die Zeit. Salzburg ist eine sehr schöne Stadt, und wenn das Leben nicht so teuer dort gewesen und mir das Leben mit so vielen Touristen vor allem im Sommer mehr und mehr auf die Nerven gegangen wäre, würde ich vielleicht noch heute dort wohnen, leben und arbeiten. Was weiß man…

Unsere traute Viersamkeit hatte ein jähes Ende als uns Verena, eine der beiden Studentinnen, an einem der seltenen Gelegenheiten, die wir alle in unserer gemeinsamen Wohnung anwesend waren, eröffnete, dass ihr neuer Freund im Herbst nach Wien gehen würde und zwar mit ihr. Ich hatte so etwas vermutet, zwar nicht unbedingt, dass das Paar gleich fast vier Stunden Zugfahrt zwischen uns und sich legen würde, aber Verenas Auszug kam nicht überraschend für mich. Das Problem, dass wir drei daraufhin ins Auge fassten, war der Umstand, dass wir wegen der hohen Miete wieder jemand Neuen in die WG aufnehmen mussten: auch für drei Leute war die geräumige Wohnung fast zu teuer, zumindest auf Dauer.

Tamara, die zweite Studentin, brachte auf dem schwarzen Brett in der Uni einen Zettel an, dass wir jemand für die WG suchen würden. Nur damit eines klar ist: wir drei Mädels hatten uns darauf geeinigt, dass wir keinen Burschen einziehen lassen würden, weil das nur unsere Beschaulichkeit durcheinander bringen würde. Darüber waren wir uns schnell einig. Und so kam es, dass Ende August, kurz vor Verenas geplantem Auszug, Michaela vor der Tür stand. Ich kann mich noch genau erinnern: ich saß in unserem gemeinsamen Wohnzimmer, hatte die Stereoanlage voll aufgedreht und lauschte gottergeben den Beatles mit „A Day in the Life“ (Damals machte ich gerade meine psychodelische Phase durch.). Michaela musste aus diesem Grund einige Male läuten, bis ich sie hörte.

Etwas peinlich berührt, weil sie mich ertappt hatte, wie ich mich meiner damaligen Lieblingsmusik so exzessiv hingab, ließ ich sie Platz nehmen und weckte Tamara, die im Nebenzimmer für eine Klausur lernte. Wir setzten uns zu ihr an den Tisch und musterten sie, während Michaela an einem Glas Wasser nippte, das ich ihr hingestellt hatte. Das Prüfungsverfahren, dem wir Michaela unterzogen, fiel nicht gerade zu ihrem Gunsten aus. Das Mädel sah so richtig bieder aus, noch viel ärger als ich, nachdem ich maturiert hatte. Ich hatte mir als erstes gleich meinen langen Zopf abschneiden und eine Dauerwelle verpassen lassen. Michaela war noch lange nicht so weit. Ihr langer, blonder Zopf war geflochten, sie hatte ein paar Pickel im Gesicht und am Hals und ihre Haut wirkte blass, nein, fast durchsichtig.

Nicht, dass sie unhübsch war, aber Michaela machte nichts aus ihrem Typ, das fiel mir sofort auf. Tamara warf mir einen skeptischen Blick zu, sie dachte ähnlich wie ich, aber immerhin war Michaela bereit, die relativ hohe Miete für die Innenstadtwohnung zu bezahlen – sie bekam ein Stipendium. Matura mit Auszeichnung, in der Kreuzschwesternschule. Gott, das erklärte alles. Wir erläuterten ihr trotzdem vorerst, wir würden sie anrufen, sobald wir uns entschieden hätten. „Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ schnaubte Tamara, nachdem Michaela gegangen war. Mein Entschluss stand nämlich. „Wir haben keine Wahl!“ belehrte ich sie. „Die anderen können oder wollen nicht das Notwendige zahlen. Glaubst du, wir können wählerisch sein?“

Unsere ersten Gedanken über Michaela waren in der Tat weder sehr freundlich noch vorurteilsfrei. Im Grunde verhielten wir uns sogar ziemlich fies, aber wir wussten es nicht besser. Trotz Matura waren wir nämlich alle drei noch ziemlich unreif, man sollte es nicht glauben. Trotzdem entwickelte sich im Laufe des Herbstsemesters eine kleine Freundschaft zwischen mir und der zarten, blassen Michaela, die allen Ernstes Französisch und Englisch studierte um später Dolmetscherin zu werden. Eigentlich hätte Michaela neben den Fremdsprachen auch das wahre Leben studieren müssen, weil jedem klar sein musste, dass sie mit dem Auftreten eines Landmädchens und der Schüchternheit eines Kindes niemals eine berufliche Chance haben würde, selbst mit den besten Zensuren auf der Uni.

Erzählungen von Michi, die zu mir Vertrauen gefasst hatte, machten offensichtlich, warum das Mädel sich so unnatürlich verhielt. Aus streng katholischem, erzkonservatorischem Haus wurde sie von ihren Eltern unterdrückt wie ein Schirm, der die Sonne weitgehend von dieser zarten, zerbrechlichen Pflanze abhielt. Selbst jetzt, auf der Uni, kontrollierten die Eltern die Fortschritte ihrer Tochter minutiös. Jede Woche musste das Mädel belegen, ob es alle Lehrveranstaltungen besucht hatte und wie ihre Klausuren und Prüfungen ausgefallen waren. Michi tat mir mittlerweile mehr als leid. Aber ich konnte ihr nicht helfen, außer, dass ich versuchte, ihr eine Freundin zu sein, wenn sie eine brauchte.

Gegen Ende des Semesters, es war kalt und regnerisch, kam ich von einem meiner Jobs heim und entlockte frierend der Kaffeemaschine eine Tasse des duftenden Getränks. Michi kam aus ihrem Zimmer und setze sich zu mir. Sie begann mit mir zu plaudern, ich weiß nicht mehr genau, wie wir auf das Thema kamen, aber schließlich sprachen wir davon, wie ein Schulkollege von mir mit 17 Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Michi meinte, was für ein schöner Tod das gewesen sei und er habe nicht lange leiden müssen, während ich widersprach und darauf hinwies, wie schlimm es wiederum sei, wenn man von den Menschen, die man liebe, nicht Abschied nehmen könne. Aber Michi konnte mir nicht zustimmen. „Es ist furchtbar, wenn man weiß, man muss sterben!“ wiederholte sie mit Nachdruck.

„Warum bist so überzeugt?“ hakte ich nach und musterte Michi konzentriert. So kannte ich sie gar nicht, dass sie mir einmal nicht zustimmte. Michi schien das nicht zu bemerken. Sie sah mich an und begann zu erzählen. „…. ich weiß, wie es bei meiner Großmutter war. Sie war 68 Jahre alt, da wurde sie krank. Im Spital hat man festgestellt, das sie Krebs hat und dass man ihr nicht mehr viel helfen kann. Eine Operation hatte keinen Sinn, weil ihr Körper voller Metastasen war.“ Michis Augen schwammen in Wasser. Die Erinnerung nahm das Mädel mit, das war unübersehbar. „Sie gaben ihr höchstens noch ein Jahr. Und die Schmerzen würden ganz schlimm werden.“

Ich nahm betroffen einen Schluck von meinem Kaffee und wartete darauf, dass Michaela weitererzählte. „Meine Eltern haben sie zu sich genommen, ich war damals 10 Jahre alt.“ Michi schnäuzte sich, ehe sie fortfahren konnte. „Oma hatte furchtbare Angst vor dem Tod, obwohl es immer schlimmer wurde. Sie magerte ab, und sie hatte ständig Schmerzen, auch die Schmerzmittel halfen immer weniger. Dabei wuchs ihre Angst vor dem Sterben mehr und mehr, weißt du, Vivi, und am größten war ihre Angst im Schlaf zu sterben.“ Michaela machte eine Pause. Sie befeuchtete ihre trockenen Lippen und wischte immer wieder ein paar Tränen vom Gesicht. Schließlich wurde ihr Blick wieder intensiver. „Hast du gewusst, dass man mit offenen Augen schlafen kann?“ Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Mit offenen Augen schlafen? „Ja,“ schien Michi auf meine unausgesprochene Frage zu antworten. „Meine Oma konnte das. Weil sie solche Angst vor dem Sterben hatte. Und weil sie nicht im Schlaf sterben wollte, das wäre das Schlimmste für sie gewesen.“

Ich war erschüttert. Gott allein wusste, wie ich reagieren würde, wenn ich irgendwann einmal von meinem bevorstehenden Tod erfahren würde, aber das – diese kranke, unnatürliche Angst. Keine bisschen Lebensqualität mehr vor lauter Angst vor dem Tod. Kein Leben mehr, nur mehr vegetieren. Und trotzdem nicht sterben wollen, und deshalb auch nicht mehr leben können. Mit Allmacht das letzte bisschen Leben fühlen, spüren müssen, obwohl es nur mehr grauenhaft war. Statt mit Würde die verbleibende Zeit mit der Familie genießen.

Schwer nachvollziehbar wofür sich die Frau wirklich fürchtete. Ob man ihr schon als Kind „Geschichten vom Höllenfeuer“ eingetrichtert hatte, das entsetzlich sein würde für alle Sündigen. Wie es die Kirche und ihre fragwürdigen Vertreter Gottes über Jahrhunderte getan haben. Ich glaube auch nicht, dass ihr Leben sehr schön gewesen ist. Aber es war wohl alles gewesen, das diese Frau noch hatte. Deshalb konnte sie nicht loslassen, so sehr sie dieses Leben auch nur mehr schmerzte. So sehr die Schmerzen jede Freude und jedes kleine Glück zerfraßen.

Hauptsache noch am Leben. Leben um jeden Preis.

Vivienne

Link: Alle Beiträge von Vivienne

 

Schreibe einen Kommentar