Neue Bohnen Zeitung


DIE BUNTE WELT VON VIVIENNE
von Vivienne  –  August 2003



Um Haaresbreite

Es gibt keinen Zufall, sagt Schiller. Und was uns blindes Ohngefüh

l nur dünkt, gerade das steigt aus deren tiefsten Quellen. Auch wenn ich es selber anders formulieren würde, Recht muss ich dem großen Dichter trotzdem geben. Ich  würde sogar so weit gehen zu sagen, dass es bestimmte Geschehnisse im Leben eines Menschen gibt, denen er oder sie ohnedies nicht entgehen kann. Je konsequenter und fixierter man etwas erreichen möchte, desto unerreichbarer wird es. Was man außer Acht lässt oder nicht spezifisch ins Auge fasst, passiert fast von selbst. Nur manches eben, da entscheidet dann doch das Glück (oder Pech, je nach dem), ob man gerade noch davonkommt oder plötzlich im schlimmsten Schlamassel sitzt, das man sich in Gedanken eben noch ausmalen könnte.

Frühsommer 2003, ich war am Morgen noch völlig auf Wochenende eingestellt gewesen, als ich in der Arbeit von der Chefin erfuhr, das ich Überstunden machen müsste, besser gesagt, nicht nur ich, die ganze Abteilung. Scheibenkleister. Den Nachmittag hatte ich schon völlig verplant gehabt, Albert würde wie üblich gegen 14:00 Uhr bei mir auftauchen, und da war noch dieser Erlagschein über den neuen CD-Player des Versandhauses, den ich unbedingt heute noch einzahlen musste… Im Grunde durfte ich mich nicht beklagen, andere Leute müssen auch am Wochenende regelmäßig arbeiten, aber ich war trotzdem aus dem Häuschen, weil sich die Mehrstunden so unerwartet ergeben hatten. Ein Kunde wollte heute unbedingt noch konkrete Ergebnisse sehen, also nutzte jammern auch nichts.

Flexibel muss der Mensch sein, ich begann also umzudisponieren. Fünf Minuten vor Zwölf hastete ich aus dem Büro, um in der nahen Bank den Erlagschein abbuchen zu lassen. Auf dem Weg hatte ich schon das Handy gezückt, um Albert anzurufen. „Hallo, Ali?“ keuchte ich. Albert hörte mir kommentarlos zu, als ich ihm erzählte, dass ich kaum vor 16:00 Uhr Schluss machen konnte und wir uns also nicht gemeinsam ins Einkaufszentrum begeben würden können um die Wochenendeinkäufe zu erledigen. „Gut, dann fahr ich also vor“, entschied Albert nach kurzem Nachdenken. „Die Liste liegt auf dem Tisch? Passt. Ärgere dich nicht, Viv“, fügte er hinzu. „Kann man nicht ändern, ist nicht die Welt. Einkaufen kann ich auch allein. Du rührst dich, sobald du aufhören kannst, dann hol ich dich ab.“

Ich war erleichtert, dass Albert die Sache sehr locker sah. „Okay, ich bin bei der Bank, in ein paar Minuten ist das auch erledigt. Wir sehen uns dann.“ Während ich noch mit Albert redete, trat ich die paar Stufen zur Bank hinauf und wollte eben durch die automatische Tür eintreten, als ich plötzlich eine halblaute Frauenstimme hinter mir hörte. Ich blieb stehen. Hatte ich mich da eben verhört? „Moment“, unterbrach ich Albert kurz und drehte mich um. Vor mir stand eine mittelgroße, schlanke Frau mit dunkelblondem Haar und blickte mich mit einem schwer deutbaren Blick an. „Was haben Sie eben gesagt?“ Die Frau nickte mir bestimmt zu. „Gehen Sie da nicht hinein! Ich hab da gerade einen Mann hineinlaufen sehen. Er trug einen Revolver!“

Das war schon eine seltsame Situation. Ich traute meinen Ohren nicht, aber die Frau sah mich noch immer mit diesem merkwürdigen Blick an, fast beschwörend, und ich wusste nicht, was ich von ihrer Warnung halten sollte. Ali riss mich aus meinen Überlegungen. „Was ist los Viv? Stimmt etwas nicht? Vivienne!!!“ Endlich konnte ich wieder einen klaren Gedanken fassen. „Es klingt verrückt, aber diese Frau auf der Straße sagt, sie hätte einen bewaffneten Mann vor ein paar Minuten in die Bank gehen sehen.“ Ich musterte die Tür und versuchte durch das Glas zum Schalterraum zu blicken, aber es war unmöglich etwas zu erkennen. Entschlossen ging ich die Stufen wieder hinunter. „Wie gesagt, es klingt verrückt, Ali, ich weiß, und ich kann auch nichts Verdächtiges bemerken, aber ein paar Meter weiter vorne ist die Post, ich zahl den Erlagschein dort ein. Und wegen meiner Überstunden – wie gesagt, ich ruf dich an, wenn ich Schluss machen darf. Tschüs.“

Ich legte auf und ging über die Straße. Die Gedanken liefen in meinem Kopf kreuz und quer. Hatte mich diese Person zum Narren gehalten? fragte ich mich. Die Bank hatte einen völlig unauffälligen Eindruck auf mich gemacht, aber letztlich war es egal, ob ich einem Scherz aufgesessen war oder nicht. Hauptsache, der CD-PLayer war endlich bezahlt, und dem Versandhaus war es egal, welches Geldinstitut ich dafür aufgesucht hatte. Trotzdem war ich etwas durcheinander, als ich wieder zurück in Richtung Firma ging. Von der Weite konnte ich nämlich schon erkennen, dass sich eine Reihe von Leuten vor der Bank gruppiert hatte

n und sich zum Teil heftig gestikulierend miteinander unterhielten. Die Wortfetzen, die ich beim Vorbeigehen auffing, machten mich stutzig. Immer wieder war von einem „bewaffneten Mann“ die Rede, von „Geiseln“ und als wenige Schritte vor mir ein Wagen der Linzer Polizei hielt und ein paar Sicherheitswachbeamte ausstiegen, bekam ich leicht weiche Knie. Diese Frau hatte also anscheinend doch nicht gelogen…

Wieder in der Arbeit wollte ich mein merkwürdiges Erlebnis unbedingt loswerden. „Hört zu, Leute“, begann ich und brachte eine Kurzversion der Ereignisse meinen lieben Kollegen zu Gehör. Die zeigten betretene Gesichtsausdrücke, eine Kollegin, Alex, schaltete das Radiogerät lauter. Liferadio-Kurznachrichten. Die Stimme aus dem Lautsprecher überschlug sich. „Banküberfall in einer Linzer Filiale der …-Bank. Der Mann ist bewaffnet und hat einige Geiseln genommen. Die Linzer Polizei beginnt, die Landstraße zu sperren…“ In der Abteilung setzte eine heftige Diskussion ein, ich selber konnte und wollte mich nicht beteiligen. Mir war schlecht geworden, ich hatte ständig das Bild dieser Frau vor meinen Augen und immer und immer wieder klang ihre Stimme in meinen Ohren: „Gehen Sie da nicht rein…“

Etwa zwanzig Minuten später rief eine Kollegin, Jessica, in der Firma an. Sie war vor einer halben Stunde noch gut gelaunt in die nahe McDonalds-Filiale marschiert, aber dort war ihr der Appetit schnell vergangen. Die Polizei ließ niemanden mehr hinaus, um zu klären, ob der Geiselnehmer einige hundert Meter weiter in dieser Niederlassung des Fastfood-Riesen nicht vielleicht doch einen Komplizen hatte. Der Banküberfall, die Geiselnehmer, die Polizisten – alles war real und kein Scherz. Und es hätte nicht viel gefehlt und ich selber hätte auch zu den Geiseln gehören können, die sich jetzt in der Gewalt des Mannes befanden, der mit Strumpfmaske und einer Schusswaffe das Linzer Zentrum in ein Chaos versetzte. Es war unglaublich schwer, sich unter diesen Voraussetzungen auf genaues und schnelles Arbeiten zu konzentrieren. Immerhin kam eine aufgebrachte Jessica nach ihrer zwangsverlängerten Mittagspause wieder zurück ins Büro.

Die halbstündlichen Nachrichten hielten uns ständig auf dem Laufenden. Der Bankräuber hatte noch immer nicht aufgegeben, obwohl er mittlerweile einige Geiseln freigelassen hatte. Mir wäre es bedeutend lieber gewesen, wenn das Radio-Gerät nicht gelaufen wäre, aber mir oblag diese Entscheidung nicht. Also versuchte ich meine Arbeit zu erledigen, auch wenn ich mich selber dabei ertappte, dass ich ständig auf die Uhr sah. Ich empfand es als eine Erlösung, als kurz vor 15:30 Uhr unsere Chefin auftauchte und uns heim schickte. Ich nahm meine Jacke und den Rucksack, loggte mich aus und trat auf den Firmenhof. Automatisch griff ich nach dem Handy, um es wieder auf „Normal“ zu stellen, doch das Display erschreckte mich: 6 Anrufe in Abwesenheit! Um Gottes Willen, seit wann war ich so begehrt? Gerade als ich versuchte, meine Mailbox abzuhören, läutete das Handy erneut.

Albert. „Oh, Viv!“ begrüßte er mich halb aufgebracht, halb erleichtert. „Was meldest du dich nicht? Ist dir auch nichts passiert?“ Ich schwieg einen Moment völlig verdattert. Was war bloß in ihn gefahren? „Albert, ich bin gerade erst aus der Firma gekommen. Ich hätte dich in den nächsten Minuten angerufen!“ versuchte ich ihn zu beschwichtigen. „Aber ich hatte so viele Anrufe, … Moment, warst das etwa du?“ Das Display des Handys ließ keinen Zweifel daran, dass ich richtig gefolgert hatte. Ich spürte Alberts Verlegenheit deutlich, obwohl er zunächst kein Wort sagte. „Viv, ich hab mir solche Sorgen gemacht…“ begann er sich schließlich zu erklären. „… und ich weiß ja auch, wie eigensinnig du manchmal sein kannst. Du hast so schnell aufgelegt heute Mittag, und als ein Kollege mir kurz danach von der Geiselnahme berichtete, kam mir plötzlich die fixe Idee, du könntest doch noch die Bank betreten haben… Aus Neugierde, aus Trotz, aus Abenteuerlust,… was weiß ich. Ich hab ständig angerufen, in der Hoffnung, du hebst einmal ab, damit meine Befürchtungen sich als haltlos herausstellen… Viv, ich bin so froh, dass es dir gut geht…“

Ich folgte Alis Erklärung mit zuerst gemischten Gefühlen. Für wie dumm hielt er mich eigentlich, dachte ich mir mehr als einmal, aber die Sorge in seiner Stimme, die tiefen Gefühle für mich, die zwischen den Worten durchkamen, versöhnten mich wieder. Im Grunde hatte Albert ja nicht völlig Unrecht mit seinen Annahmen. Niemand war so stur und eigensinnig wie Vivienne, und wer wusste besser als ich selbst, dass nichts und niemand mich aufhalten konnte, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte. Schließlich, wer konnte schon wirklich ahnen, ob ich mir nicht auch als Ziel setzen würde, einen echten Bankräuber zur Strecke zu bringen… Im Grunde, nicht einmal ich selbst, auch wenn ich mir im ersten Moment nicht im Traum vorstellen hätte können, dass ich so leichtsinnig sein könnte, ja, das Alberst mir so eine Verrücktheit zutrauen würde. Doch unter gewissen Umständen, was weiß man schon…

„Ich dich auch…“ antwortete ich Albert leise und warm. Nach einer Pause fuhr ich fort: „Ich bin vor unserer Firma, wann kannst du hier sein?“ „Vivienne, ich fliege!“ versprach mir Albert überschwänglich. Während ich das Handy wieder in den Rucksack steckte, wurde mir erst bewusst, wie viele Leute auf dieser Nebenstraße der Landstraße hin- und herliefen. So ein „Leben“ hatte ich hier noch überhaupt nicht erlebt, aber es war auch nicht verwunderlich, denn die Landstraße war noch immer gesperrt, aus den bekannten Gründen. Wie Ameisen liefen die Menschen, ohne um sich umzuschauen und alle hatten sie es eilig, nach einer langen Arbeitswoche heim zu kommen. Oder sie wollten noch Einkäufe erledigen, so wie Ali und ich. Mein Gott, was hatte ich für ein Glück gehabt, wurde mir wieder bewusst. Glück? Schopenhauer sieht das anders: Auch das Zufälligste ist nur ein auf entfernterem Wege herangekommenes Notwendiges.

Vivienne

 

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