Neue Bohnen Zeitung


von Vivienne  –  April 2004



Dem Leben entglitten…

Armin saß an der Bar.
Unsicher.
Leicht schief.
Geduckt.
Der Kellner stellte ihm ein weiteres Glas hin.
Rotwein und Rum.
Eine spezielle Mischung.
Das wievielte  – das wusste er nicht mehr.
Das Lokal war ziemlich leer.
Ein Liebespaar hinten in einer Ecke.
Mehr mit sich selbst beschäftigt.
Ein paar grölende Teenager.
Sie sangen laut.
Feierten einen Geburtstag.
Armin war allein.
Das Singen nahm er wahr, wie aus einer anderen Welt.
Er führte das Glas zu den Lippen.
Das Getränk floss links und rechts neben dem Mund herunter.
Armin spürte das nicht.
Für einen kurzen Moment lösten der Geschmack und der Alkohol ein leichtes, wohliges Gefühl in ihm aus.

Martina.
Hübsch und blond.
Blaue Augen.
So unglaublich weiblich.
Vor einer Ewigkeit hatten sie sich kennen gelernt.
In einem Lokal wie diesem.
Mit Freunden unterwegs.
Einen kannte er.
Und deshalb setzte er sich zu ihnen.
Martina gefiel ihm.
Reizvoll und noch so jung.
Siebzehn Jahre?
Und er, er gefiel ihr auch.
Das hatte er schnell gespürt.
Durch die Blicke, die sie ihm zuwarf.
Eine Woche darauf hatte er sie wieder getroffen.
Und nach einem Monat waren sie schon beisammen.
Zogen zusammen.
In seine kleine Wohnung.
Und richteten sich ein.

Mechanisch wischte er sich die Reste des Getränks vom Kinn.
Das Lächeln der Erinnerung verschwand.
Sein Blick fixierte einen Pokal an der Wand.
So sehr er sich auch bemühte.
Die Inschrift konnte er nicht lesen.
Armin geriert in Wut.
Weil ihn seine Augen im Stich ließen.
Ein neuer Gast trat an die Bar.
Ziemlich angetrunken rempelte er Armin an.
Unabsichtlich.
Die Füße gehorchten nicht mehr.
Armin schnellte aus seiner geduckten Haltung hoch.
Schlug den Mann  auf die Schulter.
Hey, bist du verrückt geworden?
Armin prügelte seine Wut aus sich heraus.
Dass seine Nase bald blutete, störte ihn nicht.
Bis er einen derben Druck am Genick spürte.
Der Lokalbesitzer.
Raus mit euch!
Keine Randalierer bei mir!
Zahlt und geht!
Sofort.

Armin verließ das Lokal.
In ihm kochte der Hass.
Und dann Tränen.
Heinz tauchte vor seinen Augen auf.
Im Fußballtrikot und mit dem gewonnenen Pokal der Ortsmeisterschaft in der Hand.
Ein Lachen im Gesicht, als wäre er eben Weltmeister geworden.
Ein Gewinner…
Was war Armin stolz auf seinen Bruder gewesen!
Und was hatte er ihn geliebt.
Heinz schien alles zu gelingen, was er anpackte.
Bis zu dem Motorradunfall, bei dem Heinz’ Knie so verletzt worden war.
Kein Sport mehr.
Kein Fußball.
Heinz war nicht fertig geworden damit.
Ließ niemanden mehr an sich heran.
Verschlossen.
Ungenießbar.
Lehnte er jede Hilfe ab.
Fraß alles in sich hinein.
Immer wieder Schmerzen im Knie.
Und neuerliche Operationen.
Ein paar Tage vor einem weiteren Eingriff fanden ihn seine Eltern am Dachboden.
Heinz hatte sich erhängt.
Kurzschlusshandlung.
Irreversibel.

Armin nahm einen Stein und warf ihn in den Weiher.
Hier, wenige Meter entfernt, hatte sie, Martina, gewohnt.
Bevor sie ihm zu ihm gezogen war.
Und jetzt wohnte sie wieder dort.
Seit sie ihn verlassen hatte.
Vor fast drei Monaten.
Er hatte nach dem Freitod seines Bruders immer mehr Zeit in Wirtshäusern verbracht.
Und getrunken.
Oft bis in die Nacht.
Verrannt in seinen Schmerz.
Martina hätte selber Armins Trost gebraucht.
Ihre Mutter war bei einem an sich harmlosen Eingriff verstorben.
Im selben Jahr wie Heinz.
Trotzdem kämpfte sie um ihn, Armin.
Um ihre Beziehung.
Gegen den Alkohol.
Der mehr und mehr Besitz von ihm ergriff.
Vergeblich.
Armin wollte sich nicht helfen lassen.
Übergab sich ganz seinem Kummer.
Der ihn nach und nach aus dem Gleis warf.
Bei einem Streit mit Martina verlor er die Kontrolle über sich.
Er ohrfeigte sie.
Sie, das liebste auf der Welt.
Wie er ihr einmal geschworen hatte.
Martina hatte nichts gesagt.
Sie hatte die Wohnung verlassen.
Für immer.

Armin starrte weiter in den Weiher.
In ihm war nur Schmerz.
Und Wut.
Über sein verlorenes Glück.
Martina.
Heinz.
Und heute seinen Job.
Wieder war Armin verkatert und viel zu spät in die Arbeit gekommen.
Die kleine Spedition.
Vor einem guten Jahr noch war sein Chef voller Begeisterung gewesen.
Armin ist mein bester Mann.
Heute Morgen hatte er sehr ernst geblickt.
Ich hab dich gewarnt.
Mehrmals.
Und ich kann dir nicht mehr helfen.
Bring dein Leben in den Griff.
Dann kannst du wieder kommen.
Wortlos hatte Armin seine Papiere genommen.
Fast betäubt.
Wortlos war er auch gegangen.
Sein Chef hatte ihm kopfschüttelnd nachgeblickt.
Ab Mittag war Armin dann von Lokal zu Lokal gezogen.
Einmal hatte er versucht, Martina anzurufen.
Sie hatte sich nicht gemeldet.
Kein Zweifel.
Sie kannte seine Nummer.
Und hob nicht ab.
Armin nahm sein Handy.
Mit einer weiten Armbewegung wollte er es in den Weiher werfen…

Etwas hielt ihn zurück.
Heinz.
Wollte er wirklich so gehen wie er?
In den Tod flüchten?
Armin hielt inne.
Dann wählte er die Nummer eines Freundes.
Zufällig.
Georg.
Freunde.
Hatte er die überhaupt noch?
Nach diesem furchtbaren Jahr?
Georg hob ab.
Wie geht’s dir?
Armin heulte los.
Es kam über ihn.
Bitte hilf mir!

Aus dem Leben geworfen….
Kann jedem von uns passieren.
Wer weiß schon, was uns erwartet?
Aber der Weg führt auch zurück.
Wenn wir Hilfe annehmen…

Vivienne

Nach einer wahren Geschichte

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