Ramstein

Manche Menschen erinnern sich an alle Details der wichtigen Situationen ihres Lebens. Manche erinnern sich sogar an Einzelheiten aus den Leben anderer Menschen. Maja hingegen vergaß fast alles. Es war kein neurologisches Problem, sie konnte im Nachhinein auch alle wichtigen Fakten wiedergeben, aber die farbigen Sprenkel, die ihre Erinnerungen lebendig machen sollten, gingen ihr immer verloren. Lange Zeit war ihr das nicht einmal aufgefallen, sie kannte es ja nicht anders, doch nach einiger Zeit hatte sie bemerkt, dass es anderen Menschen nicht so ging. Ihre Freunde konnten ihr nach einem Bootsunfall, in den sie im Urlaub als Kinder verwickelt gewesen waren, noch alle Einzelheiten aufzählen: die blauen Streifen an der Seite des Bootes, die Länge der hässlichen Wunde am Bein des Verletzten, sogar dass ihr Mutter ihnen abends Kakao mit Zimt gekocht hatte und Kekse mit Hagelzucker auf einem geblümten Teller vor sie hingestellt hatte.
Maja hatte sich später versucht einzureden, dass nur Kinder so ein Gedächtnis für Details haben, aber dann hatten ihre Kolleginnen irgendwann in der Kaffeepause davon gesprochen, wo sie gewesen waren, als sie von Lady Dianas Tod erfahren hatten. Bettina erzählte, dass ihr das Croissant vor Schreck fast im Hals stecken geblieben war und Tanja wusste noch, dass sie eine gestreifte Bluse getragen hatte und sich gerade einen Kaffee eingeschenkt hatte. Nur Maja wusste nichts zu berichten, obwohl sie sich noch klar daran erinnern konnte, dass sie ebenfalls geschockt über die Meldung in den Nachrichten gewesen war.
Einige Wochen später ging Maja zu ihrem Klassentreffen. Sie fürchtete sich schon Tage vorher davor, dass ihre vielen verlorenen Erinnerungen auffallen könnten. Aber alles lief gut. Sie erinnerte sich an alle Namen, an alle prägenden Ereignisse, an wilde Feten und an all den Tratsch. Bis Martin zu erzählen begann. Wie er damals die Martinshörner gehört hatte, von wem er gehört hatte, dass Flugzeuge in die Menschenmenge gerast seien, wen er in welcher Reihenfolge angerufen hatte, wie die Rauchwolken ausgesehen hatten, wie viele Verletzte und Tote man gemeldet hatte. Dann fingen auch die anderen an. Auch sie erinnerten sich daran, dass sie gerade ein Eis gegessen hatten, vor dem Fernseher gesessen und eine kitschige Liebeskomödie angesehen hatten oder dass ihre Tante zu Besuch gewesen war, um ihr neues Auto vorzuführen.
Reihum erzählte jeder seine Geschichte und Maja begann zu schwitzen. Sie erinnerte sich noch, dass sie auf dem Balkon gesessen hatte, ungefähr 10 km Luftlinie entfernt vom Geschehen. Sie wusste nur noch, dass es ein heißer Tag gewesen war, aber sie hätte nicht sagen können, ob sie ein Eis gegessen oder einen Saft getrunken hatte. Vielleicht sollte sie einfach behaupten, dass sie einen Eistee getrunken hatte. Auch wusste sie nicht mehr, welche Kleider sie getragen hatte oder was sie getan hatte. Vermutlich hatte sie einfach gelesen, wahrscheinlich einen Roman, was hätte sie sonst auf dem Balkon tun sollen. Oder vielleicht hatte sie Hausaufgaben gemacht? Was für ein Wochentag war denn überhaupt gewesen, Sonntag vielleicht?
Klar erinnerte sie sich daran, wie es losging. Von allen Seiten hörte man plötzlich das Geschrei der Sirenen, Blaulicht aus allen Richtungen, Homburg, Landstuhl, Feuerwehr, Krankenwagen. Dann Hubschrauber. Sie war ins Nachbarhaus zu ihren Großeltern gelaufen. Die hatten schon das Radio angestellt, aber noch hatte man nichts gemeldet. Zusammen gingen sie raus auf die Straße. Irgendjemand, an den sich Maja nicht mehr erinnerte, hatte Polizeifunk abgehört, wusste, dass es eine Katastrophe beim Flugtag gegeben hatte. Eine Flugstaffel sei abgestürzt, eine Feuerwalze mitten in die Menschen hinein. Und dann hatte sich die Straße geleert. Alle waren in die Häuser gerannt und an die Telefone, Verwandte und Freunde anrufen. Seid ihr zu Hause, gut. Ihr wart nicht dort, zum Glück. Dann abends Entwarnung. Niemand, den Maja oder ihre Familie kannten, war dort gewesen. Und Maja dachte daran, dass man ihr gesagt hatte, auf der Airbase gebe es das beste Eis und dass sie froh gewesen war, nicht wegen dem Eis hingefahren zu sein.
Der nächste Schultag war seltsam gewesen. Alle waren mit mulmigem Gefühl zur Schule gekommen, Bestandsaufnahme, alles durchzählen. Aber auch niemandem in der Schule war ernsthaft etwas passiert. Gerüchte sagten, ein Junge aus der 6. Klasse habe eine kleine Schnittwunde am Kopf; einige andere waren weit vom Geschehen entfernt gewesen und waren mit einem Schock davon gekommen. Nur im Fernsehen hatte sie danach all die Berichte über die Verletzten, über die verbrannten und verstümmelten Erwachsenen und Kinder und über die vielen Toten gesehen.
Kurz bevor Maja an der Reihe war mit Erzählen, sprang sie auf, entschuldigte sich und ging aufs Klo. Ihre verlorenen Erinnerungen gingen niemanden etwas an.

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