Heute morgen konnte ich beim Frühstück in der Zeitung nachlesen, dass der neue Linzer Hauptbahnhof, täglich Drehscheibe tausender Pendler auf dem Weg in die Arbeit, immer öfter zum Einsatzort der Exekutive mutiert: Links wie rechts gerichtete Banden tragen ihre Kleinkriege dort aus, Fahrgäste, die im weitläufigen Gelände unterwegs sind, werden angepöbelt, beleidigt, angebettelt und belästigt oder im Extremfall auch überfallen und beraubt… Die Polizei soll in Zukunft noch mehr Leute am Linzer Hauptbahnhof zum Einsatz bringen um das dreiste Treiben einzuschränken bzw. im Extremfall noch früher eingreifen zu können. So weit ein Artikel heute in einer Tageszeitung.
Ich selber bin bekanntermaßen Pendler, halte mich fast jeden Tag in der Woche am Linzer Bahnhof auf und muss ehrlich zugeben, dass mir solche extreme Zustände nicht unbedingt aufgefallen sind. Natürlich muss man einschränken, dass vermutlich nächtens oder am Wochenende, wenn ich nicht unbedingt dort anzutreffen bin, die Übergriffe mit Sicherheit eskalieren. Selbstverständlich ist es auch schon vorgekommen, dass ich am neuen Bahnhof von nachlässig gekleideten Gestalten angeschnorrt wurde, ob ich nicht ein paar Euro übrig hätte, und das schon öfter… Und einmal vor längerer Zeit wurde ich auch Zeuge, wie ein betrunkener Punk von der Exekutive abgeführt wurde, nachdem er es sich in einem Lift bequem gemacht hatte und diesen mit den Beinen, die aus dem offenen Fahrraum ragten, blockierte.
Ich kann es mir also sehr gut vorstellen, dass sich zu später Stunde und wenn sich naturgemäß weniger Leute am Bahnhof aufhalten, die Zahl der „fragwürdigen“ Gestalten dort massiv zunimmt. Speziell auch im Winter, denn im neuen Bahnhof ist es warm, sehr warm sogar im Vergleich zu den winterlichen Temperaturen, die seit Monaten in der freien Natur herrschen. Wer würde nicht lieber in einem einigermaßen warmen und trockenen Gebäude nächtigen, wenn man schon nicht wirklich liegen kann, als in der Hundekälte außerhalb? Dass Sandler und Jugendbanden keinen guten Anblick in einem als neu und modern propagierten öffentlichen Gebäude darstellen, liegt aber auch auf der Hand.
Trotzdem darf man in dem Zusammenhang nicht übersehen, dass es diese Leute „vom Rande der Gesellschaft“ auch ohne das neue Bahnhofsgelände geben würde. Sie haben nur hier eine Art „neues Zuhause“ gefunden, das viel Platz bietet und, wie schon gesagt, im Winter gut geheizt ist. Gut an sich, wenn die Exekutive für mehr Sicherheit am Bahnhof sorgen möchte, und wer schon bestohlen oder geschlagen wurde, wird das noch mehr begrüßen. Trotzdem wage ich doch auch auf diese irgendwie bedauernswerten Menschen hinzuweisen, die ja auch nicht als Punks oder Sandler zur Welt gekommen sind und durch Unglück, eigen- oder fremd verschuldet, in diese Misere geschlittert sind. Bedauernswerte Leute, wie ein junges Mädchen mit Dreadlocks, das ich neulich beobachten konnte, als sie sich ein paar Euros von den Leuten im Bereich des Supermarktes erbettelte und dann im Drogeriemarkt gleich daneben verzweifelt eine Salbe gegen Fieberbläschen suchte…
Nicht dass Sie mich jetzt falsch verstehen: natürlich geht es nicht an, dass Pendler auf dem Weg von und zur Arbeitsstelle oder Kunden eines der zahlreichen Geschäfte am Linzer Bahnhof von rabiaten Leuten angegriffen werden oder ihnen gar ihre Habe abgenommen wird. Mir ist es nur ein Anliegen, dass es durchaus auch zu überlegen wäre, nicht nur gleich wieder die Exekutive vorpreschen zu lassen sondern über Sozialarbeiter etwa eine Gesprächsbasis zu diesen Außenseitern der Gesellschaft aufzubauen. Unter Umständen ließe sich auch dadurch manches am Bahnhof vermeiden. Dass vom Leben gezeichnete Menschen sich in ihrer Not an solchen Plätzen bevorzugt aufhalten, wird man ohnedies nicht vermeiden können. Im Normalfall werden sie einmal aufgefordert zu gehen, und kommen später trotzdem wieder.
Auch den ÖBB hätte von Anfang an klar sein müssen, dass man nicht nur Fahrgäste und Kaufwillige mit dem neuen Gebäude anziehen wird. Aber diese Leute durch die Polizei zu kontrollieren bzw. entfernen zu lassen, erscheint mir fast so, wie vom Arzt ein Bein abnehmen zu lassen, wenn es weh tut. Man müsste in beiden Fällen zuerst die Ursachen erforschen und dann eine Lösung zu finden versuchen, wahrscheinlich sogar für jeden einzelnen von ihnen. Aber vermutlich verliere ich mich schon wieder in Visionen und in einen Traum von einer besseren Welt. Die Realität sieht anders aus und genau aus diesem Grund werden demnächst schon dreißig Uniformierte mehr Dienst am Linzer Bahnhof tun…
© Vivienne