Die Zeiten haben sich gewandelt und damit die auch die Sitten, die Moral, wie immer man das nun nennt. Ob das grundsätzlich gut oder schlecht ist, möchte ich dahin gestellt lassen. Reminiszenzen an vergangene Jahrzehnte, als man als Single-Mann oder –Frau keinen Besuch vom anderen Geschlecht empfangen durfte und schon gar nicht nächtens, ohne gleich „verschrien“ zu sein, kosten mich ohnedies nur einen Lacher. Scheinmoral wurde immer schon groß geschrieben, und die Geschlechter fanden immer einen Weg zueinander, auch wenn Sittenwächter ein gestrenges Auge auf sie hatten. Gott sei Dank gibt es heutzutage lockerere Wege einander kennen zu lernen und auch zu lieben, wenn es für beide passt. Mag der eine oder die andere auch die Nase rümpfen. Der Mensch lebt jetzt im Grunde endlich offen aus, was er früher auch schon geträumt und nur im Verborgenen oder heimlich wagt hatte. Daran ist nichts Schlechtes, finde ich persönlich, auf der anderen Seite wird jetzt im Zuge gefallener Schranken manchmal fast schon zu selbstverständlich erwartet bzw. sogar vorausgesetzt, was manchem gar nicht so lieb ist…
Neulich kam mir im Bekanntenkreis eine Geschichte zu Ohren, die mich nachdenklich stimmte. Eine Schulkollegin von mir, mittlerweile schon ein paar Jahre geschieden und kinderlos, hatte ein Blind-Date gehabt. Eine Schwester von ihr dürfte bei der „Vermittlung“ des Mannes ihre Hände im Spiel gehabt haben, denn diese hatte den Herrn schon persönlich kennen gelernt gehabt. Der Mann, ein echter Sir an sich, hatte sich an dem bewussten Abend als ein guter Unterhalter und sympathischer Mensch erwiesen, nicht mehr besonders jung aber gut aussehend. Man tauschte Telefonnummern aus, der Gentleman kam für die Getränke auf und brachte meine Schulkollegin sogar noch nach Hause. Dort sprach die Frau dann eine Einladung auf einen Kaffee bei ihr in der Wohnung aus und ich nehme an, Ihnen, liebe Leser, ging es an dieser Stelle der Geschichte so wie mir… Ich musste grinsen und dachte mir, na ja, die zwei gehen es an. Fein!
Die zwei gingen es aber gar nicht an, das gleich vorausgeschickt. Meiner Schulkollegin war es nämlich dem Vernehmen nach wirklich nur darum gegangen, sich mit einer Schale Kaffee für den netten Abend zu bedanken. Und nicht mehr… Bedenken hatte sie keine gehabt, oder nicht wirklich, denn ihre Schwester kannte den „Sir“ ja und hatte ihn ihr quasi „empfohlen“ – aber der Mann hatte die Aussicht auf das heiße Bohnegetränk dann doch als unzweifelhafte Aufforderung für den Austausch von Zärtlichkeiten, und vielleicht auch mehr, verstanden. Im Raum steht auch die Vermutung der Frau, dass ihre Schwester, die ich im Übrigen auch kenne, überlegt haben könnte, der soignierte ältere Herr könnte der passende Kandidat sein, das Singledasein ihrer Schwester zu beenden. Der Abschluss des an sich lockeren Abends geriet unter den unterschiedlichen Erwartungshaltungen zu einem kleinen Eklat. Die Schulkollegin befreite sich aus den Armen des Mannes, wies ihn sinngemäß darauf hin, dass ihr das alles zu schnell ginge und in leicht frostiger Atmosphäre verließ der Sir die Wohnung…
Selber schuld! urteilten einige, die ich kenne über den Vorfall. Ich gebe zu, dass ich mir auch dachte, dass die gute … auch nicht mehr klüger wird. Wie kann man nur davon ausgehen, dass jemand, den man zu nächtlicher Stunde auf ein Getränk einlädt, keine besonderen Gelüste, was diese Einladung betrifft, mitbringt? Das war doch klar, dass der Gentleman sich am Ziel seiner Wünsche sah, oder…? Je öfter ich darüber nachdachte umso nachdenklicher wurde ich ob dieser kühnen Schlussfolgerungen. Ist das wirklich selbstverständlich? Ist man gerade als Frau verpflichtet, solche Erwartungshaltungen ohne wenn und aber zu erfüllen? Eigentlich sind solche Gedanken, wie sie mir und anderen Leuten in diesem Zusammenhang gekommen sind, sehr arrogant und selbstgerecht. Natürlich regiert Sex unser Leben und natürlich haben wir mittlerweile die Möglichkeit unsere Triebe ungenierter und offener auszuleben als je zuvor. Und doch stößt mir sauer auf, dass auch ein scheinbarer Gentleman gleich zu einem Verhalten übergeht, dass mir zumindest etwas unpassend und voreilig zu sein scheint. Möglicherweise ist bei dieser Geschichte einfach auch sehr viel schief gegangen, was unausgesprochene Erwartungshaltungen betrifft. Wie angesprochen dürfte sich die Schwester meiner Schulkollegin diesen Mann als möglichen neuen Schwager erhofft haben… Unter diesem Aspekt ist auch das Verhalten des Mannes etwas besser zu verstehen.
Für die betroffene Frau hatte sich die Situation aber ganz anders dargestellt, sie hatte „einfach nur nett sein wollen“ und „Sex oder körperliche Nähe“ gleich beim ersten Date sei sowieso nicht ihre Sache. Das versicherte sie mir bei einem Gespräch letzte Woche, das natürlich im Kern um diese „Affäre“ kreiste, mehr als glaubhaft. Der Sir sei ihr zwar durchaus sympathisch gewesen abgesehen davon sei er aber auch absolut nicht ihr Typ und außerdem zu alt um einen verbindlicheren Kontakt herzustellen. Von Liebe also keine Spur, und momentan habe sie auf diesen „Schreck“ hin auch die Lust zu weiteren Blind Dates völlig verloren. Wenn es nicht möglich wäre, einen netten Kerl „einfach so“ in die Wohnung zu bitten, weil das quasi das Entreé in eine feurige Nacht darstelle oder zumindest zum Austausch intensiver körperlicher Kontakte, sähe sie das Singledasein als eine ganz probate Alternative zum kompliziert gewordenen Beziehungsleben. Weil man zu nichts verpflichtet sei und das wolle sie bleiben…
Ich kann das gut nachvollziehen, und Sie?
© Vivienne