Ich hatte an einem Wochentag 1965 frei und stand frühmorgens in unserem Garten in Obergrainau. Die Sonne schien und die Sehnsucht nach den Gipfeln hatte mich voll im Griff. Aber werktags findet man keinen Kletterkumpel und so entschloß ich mich, alleine zu gehen. Hanne befahl mir, ja vorsichtig zu sein und ich schulterte den kleinen Rucksack mit Brotzeit und meiner 8 mm Reepschnur und fuhr mit der Zugspitzbahn hinauf zur Riffelriss.
Den Kollegen Triebwagenführer bat ich, mich am Tunnelfenster aussteigen zu lassen (was mir einen langwierigen Aufstieg durch Geröll ersparte). Der Triebwagen fuhr danach weiter, das Licht im Tunnel erlosch, ich tappte den kurzen Stollen hinaus ins Licht in die Nordabstürze der Zugspitze und war mit einem Schlag mutterseelenallein in den Bergen. Nur die Bergdohlen umkreisten mich und fragten, ob ich nicht etwas zu fressen dabei hätte?
Ich machte mich an den Aufstieg und nach einer dreiviertel Stunde war ich oben in der Riffelscharte. Hier gab es wenigstens ein Rudel Bergschafe, die mich – da ich verschwitz war – gerne abgeleckt hätten…
Ich aber wendete mich nach links, stieg den leichten Grat hinauf zum Gipfel der Riffelspitze. Kurze Rast, eine Wurstsemmel, ein Schluck aus der Flasche. Der Grat hinüber zum Waxenstein, den ich mir als Tagesziel gewählt hatte, war spitz und ausgesetzt.
Ich merkte, dass ich nicht mehr ganz schwindelfrei war, hatte wohl kein Bergtrainig mehr. Mit der Arbeit verdirbt man sich aber auch alles!
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Schönangerspitze Schönfeldspitze
Fotos: Jens-Uwe Tiedtke
Unsicher tastete ich mich weiter. Hier, auf der Schönangerspitze, war die Riffelwand leicht überhängend, dass ich nicht hinein sehen konnte. Ich legte mich auf den Grat – den Po im Höllental – und zog mich mit dem Kopf über die Kante, bis ich in die Wand sehen konnte: nur senkrechter Fels und ein paar Dohlen. Ich zwang mich, den Blick in die Tiefe auszuhalten, bewegte den Kopf dabei und nach einer Weile wagte ich, in die Hocke zu gehen. An die Gratkante mich hin zu stellen, traute ich mich noch immer nicht.
Ich wandte mich ab, kletterte weiter, die Gendarmen auf und ab, passierte die Schönfeld-Spitze, ging bis zum hinteren Waxenstein. Der Fels wurde so steil, kleingriffig und brüchig, dass ich nicht mehr abklettern konnte. Es war aber nicht mehr weit hinunter zum deutlich erkennbaren Steig.
Die Zeitverzögerung machte mir Sorge: von der Riffelspitze aus war ich nun schon eineinhalb Stunden unterwegs und drüben an der Zugspitze hatten sich schon seit einer Stunde immer mehr Wolken gesammelt. Man sah deutlich, das Wetter „machte zu“. Ich entschloss mich, ins Höllental abzusteigen.
Ich legte das Seil um einen Felszapfen und seilte im Dülfer-Sitz ab. Am Stand wollte ich die Reepschnur abziehen, aber sie hatte sich irgendwie verklemmt. Ich bastelte wohl zwanzig Minuten herum, weil ich ja mein Seil nicht aufgeben wollte und kam dabei sehr ins Schwitzen.
Plötzlich merkte ich, dass mir die Tiefe nichts mehr ausmachte: ich war wieder schwindelfrei (alles nur eine Sache der Gewöhnung!)
Bald danach war ich auf dem Schafsteig, auch „Schlagindweit- Weg“ genannt, der mich in einer guten Stunde zur Höllentalhütte hinunter brachte. Der Wind hatte zum Sturm aufgefrischt (Vorboten eines Gewitters) als ich dort ankam.
Die alte Höllental-Hütte Foto Uhl
Die Wirtsleute waren erstaunt, um diese Zeit einen Kletterer als Gast zu haben. Werktags um 14 Uhr gab es hier normalerweise nur Laufkundschaft: die Sommerfrischler, die durch die Höllentalklamm herauf kamen. Ich trank eine Radlermaß und stiefelte dann trotz des schlimmen Gewitters durch die Klamm zurück nach Hammersbach.
Hanne hatte sich schon Sorgen gemacht, wegen des Wetters, ob ich rechtzeitig vom Grat weggekommen sei. Aber klar, ich riskiere doch nichts!
Paul Uhl, Tourenbericht