Neue Bohnen Zeitung


von Vivienne  –  März 2004



Manuel

Lisa stand am Fenster ihrer Wohnung.
Hastig schob sie die Gardine beiseite.
Stellte sich auf die Zehenspitzen.
So konnte sie direkt auf die Bushaltestelle etwas weiter vorn an der Straße sehen.
Angestrengt musterte Lisa die Passanten.
Ihre Augenbrauen nach oben geschoben.
Den Mund leicht geöffnet.
Total konzentriert.
Da!
Blitzschnell entfaltete sich ein Lächeln auf ihre Lippen.
Lisas blaue Augen strahlten.
Ein Seufzer der Erleichterung entrang sich ihrer Brust.
Manuel.
Ein paar Momente beobachtete sie ihn noch.
Bis der Bus in die Haltestelle einfuhr.
Dann verschwand der schlaksige junge Mann mit den braunen Haaren aus ihrem Blickfeld.

Lisa lächelte versonnen als sie vom Fenster wegging.
Sie merkte es nicht.
Aber sie trällerte ein Liebeslied mit, das gerade im Radio lief.
„Mandy…“
Klang doch ein bisschen wie Manuel.
Lisa träumte.
Vor ihrem inneren Auge lief seit Wochen nur ein Film ab.
Manuel in allen Situationen des Lebens.
Manuel mit ihr im Bus.
Lachend und schäkernd.
Manuel mit ihr im Bad.
Sie bespritzten sich mit Wasser.
Heimlich bewunderte sie seinen Körper.
Die knappe Badehose.
Und Manuel spendierte ihr ein Eis.
Manuel mit ihr in dem kleinen Lokal.
Und sie philosophierten über die Welt.
Manuel so nah, dass sie sein Rasierwasser roch.
Herb und männlich.
Sie liebte es.

Aber heute kein Manuel schon in der Früh.
Ausgerechnet heute hatte sie einen Termin beim Arzt.
Sie hatte sich mit einem kurzen Blick auf ihn begnügen müssen.
Nicht wie üblich gemeinsam in die Arbeit.
Im selben Bus mit Manuel.
Alles nur wegen der angeknacksten Speiche der linken Hand.
War passiert, als sie neulich mit Manuel einen Ausflug gemacht hatte.
Mit den Fahrrädern.
Nichts passiert im Grunde.
Aber Manuel hatte darauf bestanden, dass der Arm geröntgt wird.
Es war ihr zuerst lästig gewesen.
Aber als Manuel dann seinen Arm um sie gelegte hatte, als er sie zum Auto führte.
Da schlug ihr Herz schneller.
Und sie lehnte sich an ihn.
Obwohl ihr gar nicht schwindlig war.
Sie hatte es genossen, ihm so nah zu sein.
Spürte seinen Körper.
Roch den Schweiß.

Während Lisa träumte, hätte sie beinahe ihren Termin übersehen.
Sie schaltet das Radio aus.
Nahm den Regenschirm.
Zog die Windjacke über.
Und verließ ihre Wohnung.
In der Ordination ihres Arztes war es fast leer.
Der erste Ansturm der Patienten war vorüber.
Desinteressiert nahm sie Platz.
Hing ihren Gedanken nach.
Manuel.
Aber nicht nur Erinnerungen.
Auch Tagträume hatten sich schon dazugesellt.
Träume von Manuel und ihr.
Manuel, der sie küsste.
Der ihren ganzen Körper mit Küssen bedeckte.
Und nicht nur das.
Die Stimme des Arztes beendete diese schöne Vision.
Lisa war leicht verärgert.
Aber Minuten später konnte sie das Behandlungszimmer schon wieder verlassen.

Beschwingt ging sie aus der Praxis.
Wieder trällerte sie das Lied.
Das Lied, das ihr seit Wochen nicht aus dem Kopf ging.
„Mandy“.
Mit dem Bus fuhr sie in die Arbeit.
Der Chef war nicht da.
Lisa setzte sich an den Schreibtisch.
Wenig zu tun.
Die Kollegin feilte ihre Fingernägel.
Der Kollege lauschte gespannt den Sportnachrichten.
Lisa begann wieder zu träumen…
Träumte, während ihre Finger flink über die Tastatur glitten.
Eine Rechnung in den Computer hämmerten.
Und ein paar weitere.
Am frühen Nachmittag machte Lisa eine Pause.
Sie holte sich eine Cola aus dem Kühlschrank.
Mit dem Glas in der Hand trat sie zum offenen Fenster.
Der sanfte Frühlingswind wehte den Vorhang in das Zimmer.
Lisa steckte den Kopf hinaus.
Reckte das Gesicht der Sonne entgegen.
Stellte sich vor, wie Manuel sie küsste.

Endlich Feierabend.
Lisa blickte auf ihre Uhr.
Wenn sie sich beeilte, würde sie den Bus noch erreichen.
Den Bus, mit dem Manuel auch fuhr.
Der Chef machte ihr einen Strich durch die Rechnung.
Ein paar Geschäftsbriefe mussten dringend noch raus.
Lisa war wütend.
Unfassbar.
Ausgerechnet heute.
Eine halbe Stunde später als sonst saß sie im Bus.
Und hatte fast Tränen in den Augen.
Tief enttäuscht stieg sie aus.
Schlenderte über die Straße.
Der Regenschirm wirkte fast lachhaft bei dem Sonnenschein.
Sie stocherte damit auf dem Boden herum.
Lautes Lachen veranlasste sie stehen zu bleiben.
Manuel?
Manuel.

Manuel stand vor dem Pub.
Jenem Pub, in dem sie erst neulich mit Manuel gewesen war.
Manuel war nicht allein.
Eng umschlungen stand er da.
Lisa spürte den Schmerz körperlich.
Es war, als würde ihr ein Messer ins Herz gestoßen.
Manuel stand da.
Mit Klemens.
Klemens war es, den er so tief umarmte.
Und als er ihn losließ, las Lisa das Glück in seinen Augen.
Nicht bloß Glück.
Liebe.
Minuten verfolgte Lisa diese Szene.
Sie war fassungslos.
Die zwei beachteten sie nicht.

Lisa stand wieder am Fenster.
Auf Zehenspitzen beobachtet sie Manuel wie er zur Haltestelle ging.
Als der Bus einfuhr, schob Lisa die Gardine wieder zu.
Im Radio sang eine angenehme Männerstimme „…and she believes in me“.
Lisa drehte energisch das Radio ab.
Band sich die Schuhe zu.
Richtete die Jacke vor dem Spiegel.
Ihre Augen waren gerötet.
Sie hatte wenig geschlafen letzte Nacht.
Prüfend drückte Lisa ihren linken Unterarm.
Kein Schmerz.
Den Verband ließ sie zurück.
Sie brauchte ihn nicht mehr.
Energisch warf sie die Türe hinter sich ins Schloss.
Ihre Träume waren zurückgeblieben.
In einer Ecke.
Zerschellt.

Lisa beeilte sich als sie die Stufen hinunterlief.
Der nächste Bus musste gleich kommen.

Vivienne

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