von Vivienne – Februar 2005
Das eigene Kind
Robert Stallinger zählte die Geldscheine in seiner Börse.
Immer und immer wieder.
Er wiederholte im Kopf.
Ein 50 Euro Schein.
Zwei Zwanziger.
Es wurde nicht mehr.
Stallinger durchsuchte das Nebenfach.
Eine alte Fahrkarte.
Ein paar Erlagscheine, die er letzte Woche eingezahlt hatte.
Wo befand sich der 100 Euro-Schein?
Den er heute Mittag vom Bankomaten geholt hatte?
Für das tolle Abendessen mit Carmen.
Seiner Freundin.
Robert Stallinger verstand nicht.
Er war mit seinem Latein am Ende.
Das dritte Mal in diesem Monat fehlte Geld in seinem Portemonnaie.
Und er hatte keine Idee, wer es gewesen sein könnte.
Stallinger steckte seine Geldbörse wieder ein.
Zündete sich eine Zigarette an.
Einfach um sich zu beruhigen.
Er inhalierte den Rauch gedankenvoll.
Ursprünglich hatte er die Bedienerin im Verdacht gehabt.
Aber letzte Woche hatten wieder zwei Fünfziger gefehlt.
Und die Putzfrau war zu dem Zeitpunkt nicht da gewesen.
Sie konnte es also fast nicht sein.
Robert Stallinger überlegte fieberhaft.
In der Firma kam auch niemand in Frage.
Heute war Samstag und da war er üblicherweise nicht in der Firma.
Und wenn doch, dann allein.
Zufällige Überschneidungen?
Neulich die Putzfrau?
Letzte Woche jemand aus der Firma?
Und diesmal vielleicht nur beim Bankomaten vergessen?
Stallinger schüttelte den Kopf.
Zu viel der Zufälle.
Klar dass er nicht vorpreschen durfte mit dieser Sache.
Das Wort Dieb ist schnell ausgesprochen.
Aber wenn es ein Irrtum war –
Unverzeihlich.
Stallinger sog an der Zigarette.
Noch etwas verwirrte ihn.
Normalerweise würde ein Dieb wahrscheinlich die ganze Geldbörse ausräumen.
Das ganze Geld.
Was war das für ein Dieb, der nur einen Teil des Geldes nahm?
Als hoffe er, es würde nicht auffallen?
Es kam ihm fast so vor.
Stallinger schüttelte den Kopf.
Nein, die Geschichte ergab keinen Sinn.
Nicht den geringsten.
Eine leise Stimme ließ ihn aufhorchen.
Stallinger drehte sich überrascht um.
Linda lächelte ihn an.
Seine kleine Tochter.
Mittlerweile auch schon sechzehn.
Papa?
Ihre Stimme klang honigsüß.
Fast wie die eines Engels.
Du holst mich doch heute von der Disco ab?
Stallinger erinnerte sich.
Richtig.
Ich hab es dir versprochen.
Wo bist du heute?
In der Nachtschicht.
Geht in Ordnung.
Ruf mich an, wenn du geholt werden möchtest.
Er küsste seine Tochter zärtlich an die Stirn.
Linda strahlte ihn an.
Das kleine Biest.
Stallinger betrachtete seine hübsche Tochter mit diebischem Vergnügen.
Alice, seine Ex-Frau, würde toben, wenn sie das ahnte.
wenn du geholt werden möchtest
Diese Aufpasserin!
Ein junger Mensch muss sich austoben können.
Bei ihm war es nicht anders gewesen.
Kein Wunder, dass Linda lieber bei ihm war als bei Alice.
Aber was verstand seine Ex-Frau schon?
Das Klingeln des Handys riss ihn aus den Gedanken.
Carmen.
Sie würde gleich kommen.
Und er musste ob wohl oder Übel noch einmal zu einem Bankomaten.
Hoffentlich konnte er die Sache mit dem verschwundenen Geld bald klären
Stallinger genoss die kleine Feier in dem piekfeinen Lokal.
Carmen schien es auch zu gefallen.
Carmen.
Seine junge Freundin.
Nach zwanzig Jahren mit Alice genoss er diese neue Beziehung umso mehr.
Eine schöne Frau.
Mit Köpfchen.
Sie würde Rechtsanwältin werden.
Keine, die sich aushalten ließ.
Lange nach Mitternacht erst realisierte er, dass sich Linda noch nicht gemeldet hatte.
Verdrängte aber den Gedanken wieder.
Sie soll sich amüsieren!
Was hatte sie den für ein Leben bei ihrer Mutter?
Schließlich doch ein Klingelton.
Aber Stallinger kannte die Nummer nicht.
Eine dunkle Männerstimme meldete sich.
Herr Robert Stallinger?
Ich bin von der Polizei.
Ihre Tochter liegt im Spital.
In einer Disco zusammengebrochen.
Offensichtlich im Drogenrausch.
Es geht ihr gar nicht gut.
Bitte kommen Sie sofort.
Stallinger begriff nicht.
Nicht als er mit Carmen im Auto saß.
Und nicht als er später mit dem Kriminalbeamten sprach.
Erst der Arzt brach seinen Schock.
Ihre Tochter liegt im Sterben.
Er begann zu weinen.
Hilflos.
Carmen nahm er nicht wahr.
Carmen, die auf in einredete.
Immer wieder seine Hände drückte.
Bis acht Uhr morgens saß er im Foyer.
Übernächtig.
Müde.
Klammerte sich an jeden Satz.
Sie hat eine Chance.
Wenn sie es bis Morgen früh schafft
Carmen überredete ihn heimzufahren.
Leg dich hin.
Du kannst nichts tun für sie.
Im Spital wird man sich melden, wenn es Neuigkeiten gibt.
Robert Stallinger glaubte nicht, schlafen zu können.
Als ihn Carmen weckte, hatte er aber doch geschlafen.
Robert, hör doch!
Sie ist aufgewacht!
Ihm fiel ein Stein vom Herzen.
Gott sei Dank!
Das Läuten an der Tür riss ihn aus dem Überschwang der Gefühle.
Ein Kriminalbeamter.
Stallinger erschrak.
Er wusste nicht warum.
Er hörte ihm schweigend zu.
Ihre Tochter ist drogensüchtig.
Anscheinend schon längere Zeit.
Ist Ihnen nie etwas aufgefallen?
Haben Sie eine Vorstellung davon
woher sie das Geld dafür hatte?
Das Zeug kostet Geld.
Und sie hat jede Menge konsumiert.
Ihre Freunde haben das bestätigt
Stallinger verspürte einen Stich in der Bauchgegend.
Plötzlich passte alles zusammen.
Linda war immer bei ihm gewesen, wenn ihm Geld gestohlen wurde.
Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen.
Deshalb war sie so gern bei ihm.
Er liebte sein Kind.
Und Linda würde noch einmal davonkommen.
So wie es jetzt aussah.
Aber sie hatte ihn bestohlen.
Die ganze Zeit
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