Für Liebe kein Gespür

Ali deutete mir mit dem Kopf. Wir hatten gerade ein Kaffeehaus in der Linzer Landstraße betreten und hatten uns nach einem Sitzplatz umgeblickt. Dann zeigte er mit der Hand auf die dralle Frau, die ich auf etwa Mitte dreißig schätzte. Das lange, dunkle Haar war merklich von grauen Fäden durchzogen obwohl die Frau anscheinend immer wieder färbte – was an den Spitzen, die einen faden rötlich-braunen Farbstich aufwiesen, erkennbar war. „Eine Schulkollegin.“ Die Worte meines Mannes fielen knapp und präzise. „Bevor ich meine Lehre begann, besuchte ich ein Jahr die Handelsakademie. Aber der Schultyp lag mir nicht, deshalb brach ich nach dem ersten Schuljahr ab und begab mich auf Lehrstellensuche…“

Ich betrachtete die Frau interessiert. Wenn ich ehrlich war, wirkte sie fast älter als ich – nicht nur, weil ich meine Haare noch lange nicht färben musste… Sie sah auch verlebt aus, wenig Schlaf, Zigaretten und wohl auch viel zu viel Alkohol hatten Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen, harte Linien, daran konnte auch das Make Up, das sie reichlich benutzte, nichts ändern. „Eine Schulkollegin?“ Mehr zu mir selbst sprach ich diese Frage aus. Ali reagiert sofort. „Beatrix Hüpfner. Zumindest hieß sie einmal so. Was ich weiß, war sie verheiratet… Du wirst dich sicher fragen, was es mit der Frau an sich hat. Warum ich sie nicht als alte Bekannte begrüße, dir aber trotzdem von ihr erzähle…“ Ich sah Ali neugierig an. Dann nahmen wir in sicherer Entfernung zu der Frau Platz und Ali begann nach der Bestellung sofort zu erzählen.

„Sie war einmal scharf auf mich.“ Ali lächelte amüsiert. „Wir waren beide gerade 15 oder so und Trixi, wie wir sie alle nannten, wollte offenbar einen neuen Rekord aufstellen, was die meisten Bettgeschichten in drei Monaten betraf. Ich war die Nummer irgendwas in ihrem Plan…“ Ich hob die Augenbrauen – ich gestehe, ich war etwas irritiert. Ali grinste breit. „Ob du es nun glaubst oder nicht, ich war schüchtern und hatte noch nie… Du weißt schon. Ich wollte nicht. Nicht mit ihr und nicht so, dass es alle danach wussten. So was lag mir nicht, nie wirklich und damals schon gar nicht. Also gab ich ihr einen Korb. Aber als sie mich mit einem anderen Mädel Händchen haltend spazieren gehen sah, hat sie durchgedreht. Und dieses arme Mädchen telefonisch terrorisiert, und ihr gedroht, falls sie mich noch einmal treffen sollte.“ Ich nickte. „Nymphomanisch aber mit Besitzanspruch. Da schau her…“

Ali zuckte die Achseln. „Ich denke, noch etwas vielschichtiger. Eine Ablehnung war für sie das Furchtbarste überhaupt. Der Komplex war schwer ausgeprägt, allerdings, wenn du mich fragst…“ Ali sah mich nachdenklich an. „…zu Liebe war diese Frau gar nicht fähig. Wenn sie einen interessanten Mann traf, wurde immer der Wunsch akut, schnell mit ihm zusammen zu kommen und mit ihm intim zu werden. War sie aber erst einmal mit ihm beisammen, schwand ihr Interesse rasch. Kein Mann konnte sie auf Dauer begeistern, das habe ich immer wieder gehört, denn seltsamerweise kenne ich ein paar Typen, die auf ihrer Liste stehen. Einer Liste, die fast unendlich sein muss, so wie ich das sehe. Trixi brauchte immer wieder einen neuen Mann, und als sie geheiratet hat, weil sie ein Kind erwartete, hat sie den armen Kerl immer wieder betrogen. Und das lange Zeit, ohne dass er es ahnte. Er hing so an ihr, und dabei war vermutlich nicht einmal das Kind von ihm – sie brauchte nur jemanden, der für sie und das Kind sorgte…“

Mit großen Augen war ich der Erzählung meines Mannes gefolgt. Diese Person war ja ein ziemliches Miststück. Gewissenlos und berechnend… Ali nickte mir zu. „Aber das war noch nicht alles. Als sie, du siehst es ja selbst, nicht mehr ganz so attraktiv war – ihr exzessiver Lebensstil ist nicht ganz spurlos an ihr vorübergegangen – hat sie sich auf eine besondere Spezies Männer verlegt.“ Noch eine Steigerung? Ich war ganz Ohr. „Sie ist abends, wenn ihr Mann, ein Außendienstmitarbeiter, auswärts unterwegs war, in Lokale oder Raststätten gefahren und hat sich junge Männer zur Brust genommen, die noch nie eine Freundin hatten, will sagen, die nur bei Prostituierten sexuelle Erfahrungen gesammelt hatten. Sie kam sich immer ganz toll vor, wenn sie mit diesen Kerlen schlief, weil sie ihnen Wärme und Geborgenheit schenken würde. In Wirklichkeit hat sie ihnen ein Mal das Geld für eine Hure erspart. Aber sie schlug zwei Fliegen mit einer Klappe: sie hatte unverbindlichen Sex und konnte sich nebenbei einreden, sie würde damit etwas Gutes tun…“

Ich beobachtete Albert genau. Dann hakte ich ein. „Sag Ali, für eine ehemalige Mitschülerin, die du selber nur ganz kurz gekannt hast, weißt du sehr viel über diese Frau. Warum eigentlich?“ Fast ertappt blickte Albert zu Boden. „Man kann dir nichts vormachen… ich merke es immer wieder.“ Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. „Weißt du, der Mann, der mit dieser Frau verheiratet war und von ihr belogen und betrogen wurde, war einmal ein guter Freund von mir. Ein liebenswürdiger Kerl, liebevoll und zärtlich. Für ihn wäre sie die große Liebe gewesen, aber sie hat seine Gefühle nie zu schätzen gewusst. Und das hat er eines Tages auf sehr schmerzhafte Art und Weise begreifen müssen. Er hat das Kind, dessen Vater er vermutlich nicht ist, trotzdem mitgenommen, als er sich scheiden ließ. Damit es wenigstens eine Chance hat im Leben, eine Chance, die es bei dieser Frau nie gehabt hätte…“ Ali sah mich wieder an, in seinen Augen lag eine leise Schwermut. „Heute leben Vater und Tochter in Wien und er ist wieder verheiratet… aber ganz gefangen hat er sich von dem Schlag nicht.“

© Vivienne

Schreibe einen Kommentar