Abschiede – „Glauben Sie an Gott?“

Die Stimme drang nur sehr undeutlich zu Aimee durch. Sie hatte sich direkt nach dem Start des Flugzeuges in Frankfurt, einen Kopfhörer geben lassen um sich selber von ihrer eigenen Nervosität abzulenken.

Die Musik welche sie über diese kleinen, fast schon winzigen Kopfhörer bei geschlossenen Augen hörte war schon sehr dramatisch, um nicht zu sagen überwältigend. Sie hatte sich zunächst durch die einzelnen Kanäle des Bordradios gezappt um etwas zu finden was ihrer augenblicklichen Seelenverfassung entsprechen könnte.

Es gelang ihr schon beinahe zufällig zur Klassik durchzudringen. Klassik würde ihrer Verfassung gut tun. Ihr Buch aufklappend ließ sie sich ganz in die Polster sinken.

Dieser seelische Zustand hatte sich direkt nach dem Anruf eingestellt. Ihre Schwester hatte besorgt geklungen.

„Ich glaube nicht an Gott, jedenfalls nicht an einen Gott wie er mir in meiner Kindheit immer als weiser, gütiger alter Mann mit weißen Haaren und einem mächtigen weißen Bart vorgeschwebt hatte.“ Aimee hatte sich zu dem hinter ihr sitzenden Mann umgedreht, der sie soeben an der linken Schulter berührt hatte und der scheinbar sehr bemüht war sie in ein Gespräch über Gott zu verwickeln, zu dem sie nun absolut keine Lust verspürte.

„Sie lesen in der Bibel meine Dame und da dachte ich, dass Sie entweder sehr gläubig sind oder nur fürchterliche Flugangst haben müssen“

Aimee war ein wenig überrascht, dass der hinter ihr sitzende Fremde ihre Lektüre gesehen hatte und sie darauf ansprach. Seltsame Art jemanden in einem Flugzeug anzusprechen! Allerdings würde ein kleiner Plausch über Gott und die Welt vielleicht für Abwechslung sorgen und ihr ein wenig ihrer Sorgen nehmen können.

„Aimee ich muss Dir sagen, Mutti geht es gar nicht gut.“ Claraa hatte sich bemüht ihrer Stimme einen möglichst unbeteiligten Klang zu geben, was ihr natürlich nur sehr unvollkommen gelungen war.

Die Mutter, immer gesund und für die Schwestern ein Urgestein an Vitalität, hatte im letzten Jahr ganz plötzlich zu kränkeln begonnen.

Claraa hatte, der Tatsache geschuldet dass Sie selbst im Umkreis der Familie in Kanada lebte, mit der Schwester im fernen Deutschland immer engen telefonischen Kontakt gehalten.

Alle zwei Tage wurden mittels Internet oder Telefon die neuesten Entwicklungen diskutiert.

Nun saß die Deutsche Schwester in einer Boeing und würde in sieben Stunden in Montreal landen um ihrer Mutter in deren vermutlichen schwersten Stunden beistehen zu können.

„Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Boch, Benjamin Boch aus Zürich. Ich besuche in Montreal ein philosophisches Diskussions-Forum.“ Aimee nickte dem auf einmal gar nicht mehr so fremd scheinenden, hinter ihr sitzenden Mann freundlich zu und wollte sich wieder ihrer Lektüre zuwenden. Der Lektüre dieses Buches, welches ihr eigentlich nie sonderlich wichtig oder interessant vorgekommen war.

Die Bibel war existent und trotz der Tatsache, dass ihr Vater katholisch getauft war hatte dieses Buch keine sonderlich wichtige Rolle gespielt in ihrer Familie.

Die Mutter, selber aus einem ganz anderen Kulturkreis als der Vater stammend, hatte auch nicht so sehr viel auf die Naturreligion ihres Volkes gegeben. So war es eben eine ganz normale kanadische Familie gewesen, die sich eher an kulturellen als an religiösen Standards orientierte.

Aimee hatte sich in Frankfurt als sie den Flieger betrat ans Fenster gesetzt um wie ihr Ehemann, selber begeisterter Flieger immer bemerkte, „den Flug zu genießen“.

Flug genießen, wenn’s zur kranken Mutter ging? Eigentlich war es ihr gar nicht danach zumute.

„Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, das bitte ich Sie mir zu glauben. Jedoch habe ich ein Problem und dieses ist wirklich kein billiger Trick um Ihnen ein Gespräch aufzudrängen.“

Aimee zog sich resignierend die klitzekleinen Lautsprecher aus den Ohren, um sich ihrem, vermutlichen Verehrer aus reiner Freundlichkeit zuzuwenden.

„Was bitte könnte ich für Ihr Problem tun, beziehungsweise wie könnte ich Ihnen bei Ihrem Problem helfen?“ Aimee hatte sich bemüht, ein freundliches Gesicht zu machen, wobei dieses auch nicht zu sehr Freundlichkeit verraten sollte.

„Die Maschine ist ja ziemlich leer und vielleicht darf ich mich zu Ihnen setzen und Ihnen etwas über mich erzählen. Bitte halten Sie mich nicht für aufdringlich, aber ich brauche jetzt ein nettes Gespräch um meine Flugangst zu überwinden.“ Flugangst als Aufhänger ist neu, dachte sich Aimee und musste unwillkürlich lächeln was nun von Benjamin wohl als Zustimmung für seinen Wunsch verstanden wurde sich ihr zu nähern

Na Gut mein Lieber, bis hierher lasse ich Dir Spielraum aber für alles Weitere solltest Du Dir schon Besseres einfallen lassen, dachte sich Aimee und räumte den neben ihr unbesetzten Sitz von den Magazinen frei, welche sie im Verlauf des Fluges noch zu lesen gedachte und dort abgelegt hatte, da wie schon Benjamin bemerkte das Flugzeug eine Reihe unbesetzter Plätze aufwies.

Benjamin hatte neben ihr Platz genommen und der Stewardess ein Zeichen gegeben, worauf diese an ihre Sitzreihe trat.

Diese schien einen asiatischen familiären Hintergrund zu haben und Aime sprach sie auf Inuktitut an, da sie so einen kleinen Verdacht hatte. Sie schüttelte den Kopf und antwortete in einer für Aimee nicht verständlichen Sprache.

„Darf ich Sie zu einem Glas Champagner einladen? Sie leben in Deutschland und besuchen jetzt im kanadischen Winter Ihre Familie in Montreal?“ Benjamin hatte bei der freundlichen Stewardess schon eine Bestellung aufgegeben, wobei er scheinbar in deren Mundart gesprochen hatte.

Aimee war es fast entgangen, aber irgendetwas erschien ihr eigenartig, sie konnte es sich nur nicht erklären was nicht zu stimmen schien.

„Ich bin von der Mc Gill Universität in Montreal zu einem Symposium eingeladen worden und werde dort zum Thema „Abschied nehmen“ sprechen.“

Aimee wandte sich Benjamin zu, um diesen ungläubig anzustarren. Abschied nehmen, was genau war das?

Sie hatte in Frankfurt von Marc mit einem Kuss Abschied genommen, der sie zum Gate gebracht hatte als ihre Flugnummer aufgerufen wurde.

„Abschied nehmen ist für den Menschen immer eine ziemlich überwältigende Erfahrung und der Mensch tut gut daran sich mit dem Abschied frühzeitig zu beschäftigen, um nicht von den Ereignissen aus dem Gleichgewicht gebracht zu werden.“ Das Gefühl der Unsicherheit hatte sich bei Aimee verstärkt obwohl sie immer noch nicht wusste worauf dieses Gefühl wohl beruhte.

Benjamin machte einen sehr sympathischen Eindruck und trotzdem war etwas Unheimliches mit seiner Präsenz verbunden.

„Sie sagten mir gerade, dass Sie unter Flugangst leiden und ein nettes Gespräch Ihnen darüber hinweg hilft.“

„Das war nur ein Vorwand. Ich wollte eigentlich über Ihre Ängste reden. Sie sind in einem seelischen Tief, das kann ich ganz genau sehen und darüber möchte ich mich mit Ihnen unterhalten.“ Benjamin nippte an seinem Glas und deutete ein leichtes „Prosit“ an um Aimee aufzufordern es ihm gleichzutun. Sie folgte seinem Beispiel. Nun sah sie sich ihren Verehrer ganz genau an. Benjamin schien in etwa das Alter Marc`s zu haben, soviel stand fest und gleichzeitig schien er etwas Väterliches zu besitzen, welches Marc nun absolut fehlte soviel war sicher.

Benjamin war so wie man sich einen Lehrer vorstellte, von dem junge Schülerinnen zuhause schwärmen weil sie das Gefühl haben von diesem richtiggehend ernst genommen zu werden.

„Wollen Sie über Ihre Ängste sprechen, mit einem für Sie völlig Unbekannten?“ Benjamin lächelte und Aimee überkam ein Gefühl der Verbundenheit, gleichzeitig verspürte sie den Wunsch sich diesem Menschen anzuvertrauen. Obwohl…..?

„Sie brauchen mir nichts zu sagen. Ich werde einfach sagen, was mir an Ihnen sofort aufgefallen ist als ich sah wie Sie sich von Ihrem Mann Marc verabschiedet haben in Frankfurt und wir gemeinsam zum Flugzeug gingen.“

„ Sie kennen Marc, woher kennen Sie meinen Mann Marc? Sind wir uns schon mal irgendwo begegnet, Benjamin?“

Benjamin legte seinen Zeigefinger auf seine Lippen und Aimee verstummte um nur noch zuzuhören.

„Ihre Mutter liegt im Krankenhaus in Montreal und Ihre Schwester macht sich große Sorgen um sie und Sie haben ein schlechtes Gewissen weil Sie in Deutschland leben und das Gefühl haben nicht alles für Ihre Mutter getan zu haben. Aimee, machen Sie sich keine Sorgen. Sie sind nicht verantwortlich für die Krankheit Ihrer Mutter. Ihre Mutter hat Ihnen und Ihrer Schwester eine sehr schöne Jugend gegeben und das war auch alles was sie wollte. Und Sie verehrte Aimee, waren eine gute Tochter und dass Sie nun tausende von Kilometern von Ihrer Mutter nun Ihr Leben leben, ist absolut normal. Normal ist es auch, dass Kinder ihr eigenes Leben nach ihren eigenen Vorstellungen führen, ebenso wie die Eltern nach dem Auszug der Kinder ihr eigenes führen. Gleichzeitig müssen Sie sich vor Augen führen, dass der Tod für den Menschen ebenso normal ist wie die Geburt. Aber wie ich die Sache sehe, werden Sie Ihre Mutter noch einige Male sehen in Ihrem Leben!“

Aimee schaute Benjamin mit weit geöffneten Augen an und sie versuchte, das soeben Gehörte zu sortieren um den Sinn und die Tragweite des Gesagten zu erfassen.

„Sie wollten mir etwas über sich erzählen und nun breiten Sie mein eigenes Leben vor mir aus ohne dass ich weiß, warum Sie soviel von mir kennen.“

„Oh Entschuldigung, ich bin katholischer Geistlicher und außerdem Psychotherapeut und Psychiater. Wir betreiben in der Schweiz ein Hospiz und dort begleiten wir die Angehörigen von Sterbenskranken bei ihrer Abschiedsarbeit. Und jetzt in Montreal geht es um die Sterbebegleitung, die in zunehmendem Maße immer wichtiger wird in unserer geteilten Gesellschaft. Aimee, Sie wissen sicherlich, dass Ihre Art zu leben nichts Ungewöhnliches hat, im Gegensatz zu den Lebensumständen des Volkes Ihrer Mutter. Ihre Mutter war eine der Ersten die ihr Volk verlassen hat um in einer entfernten Region ohne den Familienverband zu leben und damit eine der Grundlagen dieser überkommenen Lebensweise aufgegeben hatte.“

Aimee musste Benjamin Recht geben und sie staunte gar nicht mal mehr sosehr, dass dieser soviel über sie wusste. Was ihr nun auffiel war die Tatsache, dass sich beide in dem Idiom ihres Volkes unterhielten, schon die ganze Zeit unterhalten hatten.

Ein Geistlicher aus der Schweiz, der mit ihr in der Sprache der kanadischen Inuit, der Ureinwohner sprach?

Nicht wirklich zu verstehen. Aber auch nicht in irgendeiner Weise beunruhigend. Sie müsse sich damit noch eine ganze Weile damit beschäftigen, soweit war sicher. Aimee schaute Benjamin forschend an, ohne weitere Fragen zu stellen, obwohl sie genügend Fragen an diesen Menschen hatte. Nach einer Pause fragte sie dann doch, ihren Gegenüber fest in den Blick nehmend.

„Sie sagen, ich werde meine Mutter noch einige Mal besuchen können, Benjamin? Was macht Sie so sicher? Sie sind sich dessen doch sicher?“

Benjamin lächelte nur stumm.

„Madam, würden Sie bitte das Custom-Formular ausfüllen, ich bitte um Entschuldigung wenn ich Sie geweckt habe. Aber wir werden in fünfzehn Minuten in Montreal landen und ich hätte Sie eigentlich schon vor einer Stunde wecken sollen, brachte dieses aber nicht übers Herz. Ich konnte Ihren friedlichen Schlaf doch nicht so brutal beenden“ Der Steward lächelte und hielt Aimee ein blaues Formular hin, das sie schon von vielen früheren Trips in die Heimat kannte.

Die Einreise-Zollformalitäten!

Benjamin war nirgendwo zu sehen, obwohl……hatte er nicht noch eben neben ihr gesessen?

Aimee suchte in der Schar der Stewards und Stewardessen welche scheinbar prüfend durch die Sitzreihen gingen, vergebens die junge Asiatin die ihr und Benjamin den Champagner gebracht hatte.

„Aimee hier sind wir.“ Claraa sah gut aus, wie sie in Begleitung von Schwager Malcolm und den beiden Lockenköpfchen Elisa und Morris an der Absperrung stand und mit beiden Armen in der Luft fuchtelte.

Später auf der Fahrt zum Hotel durch das verschneite Montreal konnte sich Aimee gut von der guten Laune ihrer Schwester überzeugen, welche einen ganz einfachen Grund zu haben schien.

Ihre Mutter war über den Berg. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sich der Zustand der Mutter grundlegend gebessert. Die Ärzte standen vor einem Rätsel wie sich Claraa beeilte zu versichern.

„Die Inuit sind ein hartes Volk selbst wenn sie in der Zivilisation eher verweichtlicht erscheinen.“ Malcolm sonst eher einsilbig, hatte den Nagel wohl auf den Kopf getroffen, so schien es.

Aimees Blick schweifte über die verschneite Saint Catherine Street und ihr Blick fiel auf eine einsame dunkle Gestalt die durch den Schnee stapfte, stehenblieb als das Taxi sie passierte, ihr zuzuwinken schien und im Nu um eine Ecke der hohen Häuser verschwunden war.

„Was hast Du, Aimee? Ist was?“

„Schon gut, Carlaa! Ich hatte nur jemanden gesehen, was aber angesichts des Wetters unmöglich sein muss! Bei so einem Wetter geht kein Mensch zu Fuß!“

„Bei uns geht man nicht zu Fuß, höchstens in der Mall vom Parkplatz zum Supermarkt, das weißt Du doch Aimee!“

„Du hast Recht, Claraa! Ich muss mich erst wieder an Kanada gewöhnen.“

Aimee fühlte das kleine Buch in ihrer Manteltasche von dem sie wusste es wäre schwarz, obwohl sie es noch nicht herausgezogen hatte und sie konnte es sich auch gar nicht erklären, wie es wohl dorthin gekommen war.

(C) chefschlumpf 17.03.07

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