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22.09.2005, © Vivienne

Das Outing

Ich wollte immer stark sein.
Mir nichts anmerken lassen.
Von Kummer oder Leid.
Vieles verbarg ich in meinem Inneren.
Obwohl es dann an und wann ein Ventil suchte.
Und auch fand.
Ich war bissig.
Bissiger als nötig.
Um nicht zu sagen:
Aggressiv.
Manchmal schüttelte man den Kopf über mich.
Launen hat die!
Den Satz hörte ich immer wieder.
Er stimmte.
An manchen Tagen genügte wenig, um mich aufbrausen zu lassen.
An manchen Tagen heulte der Schmerz in mir besonders stark.
Enttäuschungen.
Verletzte Gefühle.
Einsamkeit.

Irgendwann merkte ich dann:
Ich konnte mich kaum mehr aufraffen in der Früh aufzustehen.
Ich hätte beinahe nicht die Kraft dazu gehabt.
Manchmal glaubte ich ersticken zu müssen.
Und wie es erst bei mir aussah!
Ich wusch nur das Nötigste von meiner Wäsche.
Und saugte bisweilen einmal kurz drüber.
Mehr schaffte ich einfach nicht.
Meine Freunde waren schockiert.
Wenn sie mich besuchten.
Irgendwann lud ich sie nicht mehr ein.
Ich schämte mich für die Unordnung.
Aber ich konnte sie nicht ändern.
Nein.
Ich wusste nicht wie.
Ich ging auch kaum mehr fort.
Ich saß nur auf der Couch.
Wenn ich von der Arbeit heimkam.
Und sah fern.
Alles Mögliche.
Serien.
Shows.
Hauptsache Ablenkung.
Hauptsache nicht nachdenken müssen.
Über mich.
Und das etwas nicht stimmte mit mir.
So war ich doch früher nicht gewesen!

Das wurde mir bewusst.
Aber ich verkroch mich trotzdem.
Immer tiefer in mir selbst.
Schließlich kamen diese Tränenausbrüche.
Immer öfter musste ich weinen.
Einmal sogar in der Arbeit.
Ich genierte mich nachher so sehr.
Niemand sollte mich weinen sehen.
Oder ich  hatte komische Gedanken.
Unvermittelt.
Ich dachte, ich müsste sterben.
Eine schwere Krankheit.
Oder ich war einfach unglücklich.
Über mein Leben.
Darüber, dass sich nichts änderte.
Und weil ich mein Leben nicht mehr ertrug.
Immer wieder Kopfschmerzen.
Aber ich weigerte mich, Tabletten zu nehmen.
Das wäre Schwäche gewesen.
Schwäche, die ich mir nicht zugestand.
Brauchte doch niemand merken, wie es mir ging!

Sie merkten es trotzdem.
Meine Kollegen.
Und meine Freunde.
Einmal „überfiel“ mich einer in der Wohnung.
Überraschend.
Ihn traf fast der Schlag.
Wie kannst du so leben?
Ich begann zu weinen.
Hemmungslos.
Ich wollte vor ihm davonlaufen.
Wegen der Tränen.
Und wegen der unaufgeräumten Wohnung.
Weil ich mich schämte.
Er hielt mich auf.
Er packte mich bei der Hand.
Was ist los?
Es stimmt doch etwas nicht mit dir?
Er redete mir gut zu.
Und machte einen Termin für mich aus.
Bei einem Psychiater.
Ich begriff nicht.
Was sollte ich bei einem Psychiater?
Diese Blamage!
Würde ich auch niemanden treffen, den ich kannte?

Ich überlegte.
Einfach nicht hingehen wäre so einfach.
Ich fühlte mich jetzt besser.
Der Freund hatte sich ein paar Tage um mich gekümmert.
Mit mir geputzt.
Gewaschen.
Und aufgeräumt.
Aber der Freund ließ mir auch keine Chance.
Er nahm sich frei.
Er ging mit mir hin.
Und ich wartete.
Mit ihm.
Unter lauten fremden Leuten.
Bis ich aufgerufen wurde.
Ich stand auf.
Meine Knie zitterten.
Dann trat ich ein.
Der Arzt begrüßte mich freundlich.
Nehmen Sie Platz.
Was kann ich für sie tun?
Ich war heiser.
Meine Stimme war ganz leise.
Ich habe Probleme.
Ich bin so antriebslos.
Ich möchte immer weinen.
Ein Freund von mir meint.
Das sind Depressionen…

Vivienne

 

 

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