Das Quiz

Ramona vertiefte sich im Lexikon.
Es war schon nach Mitternacht.
Und in der Früh musste sie wieder in die Arbeit.
Doch in zwei Tagen fand das Benefiz-Quiz statt.
Ein fünffacher Vater hatte vor einem Monat einen Autounfall gehabt.
Er saß seither im Rollstuhl.
Die Familie hatte nur mehr ein geringes Einkommen.
Stand vor dem Ruin.
Da hatte Ewald eine Idee gehabt.
Ihr Ewald.
Seit zwei Jahren ihr Freund.
Und der Neffe des Bürgermeisters.
Warum machen wir kein Quiz?
So wie die Millionenshow.
Fünf Leute treten dazu an.
Die Leute dürfen auf den Sieger setzen.
Die örtliche Bank verdoppelt die Siegesprämie.
Und der Familie ist geholfen!

Ramona lächelte bitter.
Legte das schwere Buch weg.
Alle Welt feierte ihren Freund jetzt als Helden.
Zumindest hier in der Kleinstadt.
Eine geniale Idee!
Und so selbstlos…!
So edel!
Selbstlos?
Ewald war ein Chauvinist.
Ein Opportunist.
Und ein Egoist.
Ramona erinnerte sich.
Gesternabend hatte er sie getestet.
Nach vierzehn Tagen voller Lernen.
Sie konnte kaum noch klar denken.
Ewald zuckte aus.
Als sie ihm eine Frage nicht beantworten konnte.
Du blödes Weib!
Wozu lerne ich mit dir?
Und ich sage es dir noch einmal.
Du gewinnst den Wettbewerb.
Das ist Werbung für meine Firma.
Das ist unbezahlbar.
Etwas anderes akzeptiere ich nicht.
Hast du gehört?
Er hatte sie an ihren langen Haaren gepackt und gerissen.
Hast du gehört?
Er lachte, als er ihr ängstliches Gesicht sah.
Ewald ließ ihre Haare wieder los.
Schon gut.
Ich weiß, dass du ein gutes Mädchen bist…
Du wirst gewinnen.

Ewald schlief mittlerweile.
Ramona rauchte der Kopf.
Nicht, dass man sie nicht gewarnt hatte vor Ewald.
Aber sie war schon sehr lange allein gewesen.
Und er konnte ihr etwas bieten.
Das war ihr zunächst wichtig gewesen.
Eine ganze Weile zumindest.
Aber mittlerweile reichte es ihr.
Ewald wurde zwar nicht wirklich gewalttätig.
Seine Beleidigungen taten ihr aber schon viel mehr weh.
Ich weiß, dass du ein gutes Mädchen bist…
Wütend schleuderte Ramona das Lexikon in die Ecke.
Das war ihr Problem.
Sie war immer ein gutes Mädchen gewesen.
Hatte sich den Wünschen der anderen untergeordnet.
Aus Harmoniesucht.
Und der großen Angst, allein zu sein.
Immer versuchte sie, nicht anzuecken.
Dass ja nur niemand beleidigt war.
Oder sauer auf sie.
Aber sie hatte keinen Erfolg damit gehabt.
Sie hatte nur draufgezahlt.
Und so war sie verbittert.
Ewald war der Schlimmste von allen.
Er impfte ihr ständig Schuldgefühle ein.
Nach Belieben.
Ramona stand auf.
Ballte die Faust.
War es so wichtig einen Partner zu haben?
War es nicht besser allein zu bleiben…?

Sie hatte keine Lust auf das Quiz.
Aber Ewald hatte sie angemeldet.
Ohne sie zu fragen.
Und als sie protestieren wollte, die alte Litanei.
Na hör mal!
Du willst mich doch nicht im Stich lassen?
Ramona bückte sich.
Hob das Lexikon wieder auf.
Eigentlich wollte sie das schon.
Ewald im Stich lassen.
Schon die ganze Zeit.
Sie war es satt, seinen Anforderungen zu entsprechen.
Seine Erwartungen vorauszuahnen.
Wer wollte denn wissen, was sie wollte?
Wen kümmerte es, was sie sich wünschte?
Ramona steckte das Lexikon in das Bücherregal zurück.
Und wer hinderte sie zu gehen?
Ramona verkrampfte die Hände ineinander.
Niemand.
Nur sie selbst.
Sie war nicht Ewalds Eigentum.
Sie konnte einfach gehen.
Wann immer sie wollte.
Sie war ihr eigener Herr.
Sie war oft allein gewesen in ihrem Leben.
Warum also jammern, dass es wieder einmal vorbei war?
Es gab Schlimmeres im Leben.
Die letzen beiden Jahre waren das beste Beispiel dafür…

Ewald schlurfte schlaftrunken aus dem Bad.
Er blickte ungläubig auf die Uhr.
Du bist noch da?
Müsstest du nicht schon in der Arbeit sein?
Ramona grinste ihn an.
Ewald sah jämmerlich aus.
In seinen Shorts und dem unrasierten Gesicht.
Und dem schwabbeligen Bauch.
Ich gehe weg von hier.
Der Satz stand im Raum wie ein dumpfer Klang.
Ewald wurde mit einem Schlag hellwach.
Spinnst du?
Red keinen Unsinn!
Hast du verschlafen?
Ramona drehte sich um.
Packte ihre Tasche.
Du kannst mich mal.
Ewald stand auf.
Was zum Teufel ist los mit dir?
Dreh dich gefälligst um, wenn ich mit dir rede!
Ramona warf ihm einen verächtlichen Seitenblick zu.
Ich glaube, du musst dir einen anderen Kandidaten für dein Quiz suchen.
Ich fahre jetzt gleich weg.
Ramona hob ihre Stimme.
Ich freue mich schon so.
Es wird so toll sein, dich nicht mehr zu sehen…
Ewald hinter ihr hatte zu schreien begonnen.
Sie hörte ihn auch noch, als sie im Taxi saß.
Auf dem Weg zum Bahnhof.
Seine Stimme tobte in ihrem Gehörgang.
Sie war wieder allein.
Aber noch nie war sie so glücklich darüber gewesen…

Vivienne

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