Vor Jahren arbeitete ich in einer Versicherung, in der besonderer Wert auf persönlichkeitsbildende Maßnahmen für die Mitarbeiter gelegt wurde. Diese Seminare, die von der Firma während der Arbeitszeit veranstaltet wurden, fanden auch nicht selten in einem Seminarhotel in Niederösterreich statt, was von den Mitarbeitern als willkommene Abwechslung geschätzt wurde.
Die Seminare reichten von Themen wie Gesprächsverhalten über Gruppendynamik bis Stressmanagement und ich möchte nicht in Abrede stellen, von dem einen oder anderen Angebot auch profitiert zu haben. Die Seminare wurden zumeist unter direkter Mitwirkung von Psychologen und Psychotherapeuten veranstaltet, wobei oftmals ein Punkt erreicht wurde, den ich kritisch betrachten musste. Denn sosehr ich persönlichkeitsbildende Maßnahmen als sinnvolle Arbeitsunterstützung anerkenne, erwarte ich davon praxisbezogene Hilfestellung und keine Experimente.
In einer herrlichen Frühjahrswoche hatten sich 60 Mitarbeiter unserer Firma in einem Seminarhotel am Semmering zu einer solchen einwöchigen Schulung eingefunden. Der Seminartitel lautete „Interaktionsdynamik“ und nicht viele wussten wirklich, was sie sich darunter vorstellen sollten. Unter Interaktion wird allgemein jede Form der wechselseitigen Bezugnahme von Personen und Gruppen verstanden und tatsächlich sollte das Ziel des Seminar im Training der Gruppendynamik bestehen.
Am ersten Tag wurden aus den 60 Mitarbeitern per Zufallsgenerator vier Gruppen gebildet und jede Gruppe wurde einem Trainer zugeteilt. Es handelte sich bei den Trainern um zwei niedergelassene Psychotherapeutinnen, einen Psychiater und einen Unternehmensberater. Ich selbst war der Gruppe der etwa 50jährigen Psychologin Dr. Wagner zugeteilt. Das Plenum, also die Leute aller vier Gruppen, trafen sich nur zu vorgegebenen Zeiten im großen Saal. Da es zu der Thematik wahrscheinlich auch nicht sinnvoll wäre, allzu viel Theorie zu predigen bestand die Aufgabe in der Kleingruppe zumeist darin Aufgabenstellungen zu erarbeiten und anschließend mit dem Coach zu diskutieren. Ich erinnere mich noch gut daran, wie oft es zu einer Diskussion mit der Trainerin kam, weil die Aufgabenstellungen der Gruppe zu surrealistisch erschienen.
Am dritten Seminartag, am Mittwoch, wurden wir in der Früh mit der freudigen Mitteilung begrüßt, nun endlich eine praktische Aufgabe übertragen zu bekommen. Jeder der 15 Teilnehmer erhielt drei Kärtchen, die er mit den Buchstaben „E“, „V“ und „I“ zu beschriften hatte. „E“ sollte für Einfluss, „V“ für Vertrauen und „I“ für Irritation stehen. Als nächstes sollten wir nun zu jedem Begriff die Namen von drei Kollegen aus der Gruppe schreiben. Eine nicht einfache Aufgabe, wenn man berücksichtigt, dass sich viele Leute gerade erst zwei Tage kannten. Von der Trainerin wurde auf die Begriffe nicht näher eingegangen, es war aber doch jedem klar, dass „E“ und „V“ positiv besetzt wären und der Begriff „Irritation“ eher zweideutig bis negativ zu verstehen ist. Mein Einwand, es würde mich niemand in der Gruppe irritieren, wurde nicht zugelassen – es war also notwendig je 3 Kollegen zu nominieren.
Am Ende hatte man nun 45 Kärtchen und wertete das Ergebnis auf einem großen Plakat aus. Der größte Teil der Teilnehmer hatte eine relativ ausgeglichene Bewertung aus den drei Kategorien, doch fielen zwei Kollegen besonders aus der Reihe. Da war Walter Konrad aus dem Vertrieb, der von Beginn an durch seine zahlreichen Wortspenden auffiel, und zeitweise schon fast die Rolle der Trainerin übernommen hätte. Er glänzte bei der Auswertung mit 14 Einflusspunkten, immerhin noch 10 Vertrauenspunkten und nur einem Irritationspunkt. Genau die gegenteilige Punktewertung hatte der eher introvertierte 30jährige Wolfgang Stift aus dem Controlling erhalten: Keinen Einfluss, einen Vertrauenspunkt und 12 Irritationspunkte. Ohne dass die Psychologin auf das Gesamtergebnis irgendwie näher einging stellte sie als nächste Aufgabe, dass jeder zu erklären hatte, warum er seine Punkte gerade so vergeben hatte, was nicht unbedingt leicht war. Eine Kollegin war von dieser Übung, dem „Soziogramm“ so begeistert, dass sie meinte, sie müsse es sofort nach ihrer Rückkehr in der Abteilung ausprobieren. Mir selbst war etwas mulmig bei diesem Experiment.
Beginnend mit diesem Tag ging in Wolfgang Stift eine Veränderung gegenüber der Gruppe vor, durchaus auffällig wich er jedem Kontaktversuch aus und reiste am Donnerstag Abend vorzeitig – wegen privater Verpflichtungen, wie es hieß – ab. Wie wir später erfahren haben, zeigte er sich ab diesem Zeitpunkt aber auch seiner Frau gegenüber depressiv und sprach nur mehr davon, dass „er wisse, dass er überall der Buhmann sei“. Wenige Tage nach dem Seminar hat Wolfgang Stift einen Selbstmordversuch unternommen, den der nur Dank eines großen Schutzengels überlebte.
Ich weiß zuwenig über möglicherweise zuvor bestehende Probleme im Leben des Wolfgang Stift und möchte und kann natürlich auch nicht die alleinige Schuld den beschriebenen Vorkommnissen anlasten. Genauso wenig ist es meine Absicht die Trainer allzu hart zu kritisieren. Ich habe später mit einem befreundeten Psychologen über das Soziogramm gesprochen und er meinte, diese Übung müsse seiner Berufskollegin entglitten sein. Vom Sinn einer solchen Übung konnte er mich aber auch abgesehen davon nicht wirklich überzeugen …
Pedro