Astrid war eine ruhige Kollegin in unserer Abteilung und auch wenn sie erst kürzlich in unser Unternehmen eingetreten war, hatte ich einen positiven Eindruck von ihr. Neulich saß ich am späten Nachmittag noch mit ihr in der Firma und ich gönnte mir nach 18:00 Uhr noch einen kleinen Kaffee. Albert hätte mich zwar geschimpft deswegen, weil ich nach einem späten Kaffee oft Nachtaktivitäten entwickelte (wie bis 1:00 Uhr Nacht am PC sitzen), die ihn erstens störten und die, wie er meinte, nicht gesund für mich wären, aber ich musste ihm das heute nicht auf den Kopf binden… Ganz unrecht hatte mein Mann sicher nicht, aber ich arbeitete nun schon eine Stunde an ein paar Angeboten, die heute noch raus mussten, und jetzt brauchte ich einfach noch schnell etwas Aufputschendes, da konnte Albert sagen was er wollte!
Astrid, von der ich wusste, dass sie auch gleich gehen würde, warf einen langen Blick auf die Uhr, die oberhalb der Tür zum Chefbüro hing. Unvermittelt grinste sie. „Das wäre jetzt ein idealer Zeitpunkt für den Chef mit einem Anruf zu kontrollieren, ob wir ja noch brav auf dem Posten sind…“ Ich erwiderte ihren belustigen Blick etwas erstaunt. „Warum sollte er? Wenn er sich nicht darauf verlassen könnte, dass wir hier unsere Arbeit machen, dann könnten wir ohnedies zusperren. Warum sollten wir uns davon schleichen, wenn, so wie heute, noch so viel zu tun ist? Und…“ schloss ich meine Ausführungen, „…bis 17:00 Uhr ist doch immer jemand da! Unser System läuft wie am Schnürchen!“
Astrid schüttelte den Kopf. „Das stimmt schon, aber deswegen könnte er sich trotzdem ab und an die Mühe machen sich mit einem Kontrollanruf zu vergewissern. Du weißt ja: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“ Ich stellte meinen Kaffee wieder hin und dachte kurz nach. Nun, es kam schon vor, speziell freitags, das kurz vor zwei Uhr, wenn die letzten gingen, plötzlich das Telefon noch läutete und sich niemand meldete, wenn man abhob. Es wurde einfach wieder aufgelegt, aber wenn ich ehrlich war, kam so was den ganzen Tag vor, immer wieder mal, und das hatte unterschiedliche Ursachen. Schlechter Empfang mit dem Handy oder ein fast leerer Akku, und manchmal verwählte sich jemand wirklich. Normalerweise machte ich mir in so einem Fall nie Gedanken darüber, wer denn angerufen hätte, aber andererseits: Astrid konnte schon recht haben, Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! Unser Chef hatte ja keine Gewähr, dass wir wirklich korrekt bis Dienstschluss in der Firma blieben – er selber nahm ja viele Auswärtstermine wahr und konnte uns nicht immer auf die Finger sehen…
Ich trank vom Kaffee und zuckte schließlich die Achseln. „Mag schon sein, Astrid, aber wie auch immer: ich für mich selber kann sagen, ich bin korrekt, ich muss mir nichts vorwerfen. Aber ich werde jetzt noch das letzte Angebot schreiben und mailen und mich dann vertschüssen…“ Etwas in Astrids Haltung machte mich stutzig. Sie grinste nämlich noch immer breit und griff nach ihrem Regenschirm. „Nicht dass du mich falsch verstehst, ich weiß es natürlich auch nicht, aber mein letzter Chef war so ein Kontrollor.“ „Tatsächlich? Der hat euch immer kontrolliert?“ Eigentlich wollte ich selber bald heimgehen und Albert würde sicher gleich anrufen, wo ich denn bliebe, aber die Kollegin hatte mich neugierig gemacht. Astrid setzte auch gleich ihre Geschichte fort. „Ja, mein damaliger Chef hat immer angerufen, wenn seine Sekretärin Urlaub hatte oder krank war, was auch immer. Er glaubte uns nicht trauen zu können.“
Ich schmunzelte verhalten. „So einer also. Aber woher wusstest du eigentlich, dass es euer Chef war? Es hätte ja Zufall sein können!“ Astrid verstaute den Regenschirm in ihrer großen Handtasche. „Es hat natürlich einige Zeit gedauert, bis uns ein Zusammenhang auffiel. Schließlich „überwachte“ uns normalerweise ohnehin die Chefsekretärin penibel, dass wir unserer Arbeit nachgingen und bis Dienstschluss in der Firma blieben. Aber jedes Mal, wenn sie selber einen Auswärtstermin hatte oder aus sonst einem Grund nicht da war, läutete pünktlich um drei Minuten vor fünf das Telefon. Und wenn ich oder jemand anderer abhob, dann wurde kurz geschwiegen und wieder aufgelegt.“ Gespannt hatte ich Astrid zugehört. „Das klingt verdächtig, der Mann muss schon sehr penibel sein, wenn er sich an so exakte Zeiten hält… Aber schade nur, dass ihr nie einen wirklichen Beweis gehabt hat!“
Astrid schüttelte den Kopf. „Da irrst du dich, © Vivienne! Weißt du, wir bekamen nämlich die neuen Telefonapparate mit Display, auf der die Telefonnummern angezeigt werden. Und da war es dann ganz einfach: wir schrieben uns die Nummer auf und verglichen – es war immer dieselbe Festnetznummer.“ Astrid sah auf die Uhr. „Na ja, als der Chef das nächste mal anrief, habe ich mir den Spaß gemacht ihn anzureden. Brauchen Sie noch was, Herr Gruber? Der war vielleicht baff!“ Astrid lachte lauthals. „Dann hat er sich geräuspert und mir stotternd erklärt, er müsse sich verwählt haben. Er wollte eigentlich seine Frau anrufen…!“ Ich ging grinsend mit dem Kaffee zu meinem Schreibtisch zurück. Astrid traute sich schon was, keine Frage. Wirklich amüsant, aber einmal abgesehen davon: vielleicht sollte ich auch öfter darauf achten, wer zu später Stunde noch in der Firma anrief – man wusste ja schließlich nie!
Nach einer wahren Begebenheit
© Vivienne