Ein Kater ohne Furcht und Tadel

Nach Minkis Tod begann sich der Alltag bei uns wieder zu normalisieren. Zwar vermissten wir unser Kätzchen nach wie vor, aber wir lernten mit der Leere, die sie in unserer Familie hinterlassen hatte, zu leben. Kater Stocki, ihr Sohn, schien in der Folge vom Tod seiner Mutter doch mehr beeindruckt, als ursprünglich angenommen. Sein extrovertiertes Wesen war dem einer (fast) normalen Katze gewichen. Er fraß deutlich weniger und setzte auch weniger oft sein sonst so kraftvolles, lautes Schnurren ein. Ich bin mir nicht sicher, ob ihm bewusst war, dass er seine Mutter verloren hatte, aber etwas in ihm schien doch zu begreifen, dass er jetzt die alleinige Katze daheim war…

Der Frühling war endlich eingekehrt. Und Stocki begann seinen Winterpelz zu verlieren. Oft sah ich ihn wieder draußen vor dem Haus sitzen wie er sich die Sonne auf den Pelz scheinen ließ. Ein prachtvoller schöner Anblick, ein Bild von einem Kater, auch mit seinen bald zehn Jahren noch. Nach dem Mittagessen vermissten wir den Kater plötzlich, aber ich machte mir wenig Gedanken. Er würde wohl hinter dem Haus in der Sonne liegen… Also widmete ich mich dem Wäscheberg, der sich in dieser Woche angesammelt hatte, und begann meine Wäsche in den Kasten zu räumen. Die Zeit verging wie im Flug und ich kam durchaus ins Schwitzen. Die Fenster hatte ich gekippt, und nur das laute Starten eines Autos riss einmal mich aus den Gedanken.

Ich hatte schon in der Früh bemerkt, dass ein paar Autos bei unserem Nachbarn geparkt waren – wohl ein größeres Treffen, das der in seinem Haus abhielt. Und jetzt machte sich vermutlich einer der Gäste wieder auf den Weg. Also widmete ich mich wieder meiner Wäsche, die nach und nach im Kasten verschwand. Kurze Zeit darauf ging ich hinaus in den Garten. Ich wollte mir ansehen, ob der Flieder schon aufblühte. Bei der Haustür empfing mich aber mein Vater. „Stell dir vor…!“ Er wirkte ein wenig aufgebracht auf mich. „Na, was denn?“ Im ersten Moment war ich nicht geneigt, seine leichte Aufregung ganz ernst zu nehmen. Was sollte denn schon passiert sein?

Aber mein Vater nahm mich bei der Hand und ging mit mir nach draußen. „Der Kater, das verrückte Vieh!“ klärte er mich ein wenig umständlich auf. „Weißt du, wo er gewesen ist?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, draußen halt, oder?“ Mein Vater runzelte die Stirn. „Du siehst doch die vielen Autos beim Nachbarn da drüben. Stocki hat sich unter eines der Autos gelegt. Klar, der Motor ist warm und trocken ist es auch.“ Mein Vater deutet auf die Straße. „Und vorhin ist einer der jungen Leute ins Auto gestiegen und wollte wegfahren. Ausgerechnet in das Auto, unter dem Stocki lag, Oder besser gesagt gelegen ist. Als der Motor nämlich aufheulte, ist er wie der Blitz aufgesprungen und zu uns geflüchtet, irgendwohin in den Garten. Gerade noch rechtzeitig. Ich habe keine Ahnung, wo er jetzt ist. Aber es war knapp, sehr knapp. Das dumme Vieh, jetzt, so kurz nach Minkis Tod….“

Während der Erzählung meines Vaters war mir das Herz in die Hose gerutscht. Warum war der Kater nur immer so unvorsichtig? Ich ging schließlich sehr nachdenklich in den Garten. Es wäre ein großer Schock gewesen, wenn jetzt nach Minki auch noch Stocki von uns gegangen wäre. Nicht auszudenken.! Aber da vorne, mitten unter den Traubenhyazinthen, leuchtete mir etwas Orangerotes entgegen. Da lag er also, und ahnte wohl nicht, was er uns wieder für einen Schrecken eingejagt hatte. Stocki hörte mich kommen und miaute mich an. Wenn er seinen großen Kiefer öffnete, hatte das noch immer etwas leicht Bedrohliches an sich. Er aber drehte sich auf den Rücken und zeigte mir ganz vertrauensselig seinen weißen Bauch.

Na, es schien ihm also gut zu gehen, stellte ich fest, während ich seinen Bauch kraulte. Er schnurrte leise und schmiegte sich zärtlich an mich. Man konnte es ihm wohl nicht abgewöhnen, sich auf solch gefährliche Gewohnheiten einzulassen. Unter Autos war der Kater immer schon gerne gelegen, seit er ein Baby gewesen war… Ich erinnerte mich gut. Ob wohl irgendwann ein Auto schneller sein würde als er? Ich wusste es nicht. Ich verdrängte den Gedanken auch gleich wieder. Das machte keinen Sinn. Stocki lebte auf die Weise, die ihn glücklich machte. Und wenn er einmal auch deswegen sterben würde, ähnlich wie seine Mutter, war es ihm wohl vorbestimmt…

Vivienne

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