Margit saß in der Küche.
Vor dem kleinen Bistrotisch.
Vor sich eine Schale Kaffee.
Sie hatte gerade einmal getrunken.
Und wenn sie nachdachte.
Sie erinnerte sich nicht einmal mehr, wie er geschmeckt hatte.
Zu heiß?
Oder nicht süß genug?
Sie wusste es nicht.
Starrte nur in die goldgelbe Melange.
Um irgendetwas zu tun.
Um ihren Gedanken Einhalt zu gebieten.
Gedanken, die schmerzten.
Was liebte sie Kaffee sonst!
Manchmal, sonntags, trank sie ihn auch gerne mit Schlagobers.
Ein kleines Häufchen in die Tasse.
Dazu ein Stück Guglhupf.
Oder Sachertorte.
Danach fastete sie immer Tage.
Gönnte sich wenig außer Zwieback und Obst.
Und einer Schale Kaffee mit Süßstoff…
Hans war vorhin gegangen.
Hans, der blass gewesen war.
Die Personifizierung des schlechten Gewissens.
Ich hätte es dir längst sagen sollen.
Ja, ich weiß.
Aber wie?
Er wiederholte es fast ständig.
Der Mann, mit dem sie fast dreißig Jahre glücklich gewesen war.
Mit dem sie alles überstanden hatte.
Den schweren Unfall vor fünf Jahren.
Als er fast gestorben war.
Ihre Kinderlosigkeit.
Als sie nach zwei Fehlgeburten kein Kind mehr bekommen konnte.
Wir haben uns!
Er hatte sie dabei verschmitzt angelächelt.
Mit Tränen in den Augen.
Kein Wort darüber, wie sehr es ihn geschmerzt hatte.
Aber sie waren beisammen geblieben.
Fast noch inniger verbunden als zuvor…
Ein Sonnenstrahl brach durch das Küchenfenster.
Plötzlich war es sehr hell geworden.
Margit begann im Kaffee zu rühren.
Und starrte ins Leere.
Sie war einundfünfzig Jahre alt.
Eine attraktive Frau.
Ohne jeden Zweifel.
Schlank.
Kleidergröße 36.
Sie hatte immer darauf geachtet nicht zuzunehmen.
Sie wollte schön sein.
Schön für Hans.
Wenn sie schon keine Kinder von ihm haben konnte…!
Welcher Mann würde sie jetzt noch ansehen?
Dann, wenn Hans sie verlassen hatte?
Endgültig?
Nun, der eine oder andere würde sie schon wohlwollend betrachten.
So wie jetzt auch.
Aber würde sie noch einer lieben?
Margit legte den Löffel weg.
Sie brauchte keinen, der sie ernährte.
Sie war an der Firma von Hans beteiligt.
Sie brauchte keine Almosen.
Aber würde sie noch einer lieben?
So wie Hans sie geliebt hatte?
Viele Jahre?
Und würde sie noch einmal lieben können?
So sehr wie sie Hans geliebt hatte?
Sie hatte nichts gemerkt.
Nicht das Geringste.
Hans war wie immer gewesen.
Fast wie immer.
Manchmal etwas fahrig.
Oder auch nervös.
Aber doch aufmerksam.
Und bisweilen auch sehr zärtlich.
Sie hatte sich vergangene Nacht den Kopf zermartert.
Woran hätte sie es merken können?
Oder müssen?
Gab es einen kleinen Hinweis?
Irgendeinen?
Den sie nur richtig deuten hätte müssen?
Sie hatte kaum geschlafen in der letzten Nacht.
Und dennoch war ihr nichts eingefallen.
Nicht das Geringste.
Hans hatte sie betrogen.
Seit über einem Jahr.
Mit einer Bekannten.
Nur wenig jünger als sie.
Und er hatte sich nichts anmerken lassen.
Er hatte trotzdem mit ihr geschlafen.
Als ob alles in Ordnung gewesen wäre.
Zwischen ihnen beiden.
Er hatte sie täuschen können.
Obwohl sie ihn so gut zu kennen geglaubt hatte…
Margit starrte auf die Tasse.
Der Kaffee musste schon kalt geworden sein.
Egal.
Sie würde ihn ohnedies nicht mehr trinken…
Sie stand ruckartig auf.
Die Erinnerung blendete auf gestern Mittag.
Als sie einkaufen gewesen war.
Mit einer Freundin.
Bepackt waren sie in das Restaurant gegangen.
Um sich einen Imbiss zu gönnen.
Und weiter hinten war Hans gesessen.
Mit dieser Frau im Arm.
Dieser Frau, die sie flüchtig kannte.
Angeblich hatte er einen Geschäftsfreund treffen wollen.
Das hatte er ihr am Morgen noch erzählt.
Eine von vielen Lügen in den letzten Monaten…
Sie hatte sich abgewandt von diesem Anblick.
Den sie nicht mehr ertragen hatten können.
Schließlich merkte sie.
Ihre Freundin hatte sie schon die ganze Zeit angesehen.
Die hatte natürlich genau so schnell begriffen wie sie selber.
Diese Frau war die Geliebte von Hans…
Hans hatte ihr am Abend schließlich alles gebeichtet.
Auch er wirkte betroffen.
Sie hatte nichts dazu gesagt.
Sie hatte gar nichts mehr gesagt zu ihm.
Seither.
Es tut mir Leid.
Immer wieder dieser Satz.
Es tat ihm also Leid.
Aber änderte das irgendetwas an diesem Betrug?
Nichts anderes war es.
Natürlich.
Er hatte sich keine junge Frau geholt.
Und mit der womöglich ein Kind gemacht.
Das wäre wahrscheinlich noch viel schlimmer gewesen.
Aber im Grunde blieb nur eins.
Er hatte sie betrogen.
Und er hatte ihr etwas vorgespielt.
Vielleicht noch ein paar Jahre.
Wenn sie nicht zufällig dahinter gekommen wäre.
Und nun bettelte er um Vergebung.
In jedem zweiten Satz.
Damit sein Verhalten entschuldigt war.
Ein Verhalten, das im Grunde unentschuldbar war.
Er hatte sie verraten.
Er würde mit dieser Frau glücklich werden.
Und sie musste allein bleiben.
Es würde keinen anderen nach ihm geben.
Vor allem auch, weil sie gar nicht wollte.
Wem konnte sie noch trauen?
Nein.
Sie wollte es Hans nicht leicht machen.
Kein Vergeben.
Es gab nichts mehr zu reden zwischen ihnen…
Margit griff nach der Kaffeetasse.
Goss den kalten Kaffee in die Spüle.
Dann sank sie in sich zusammen.
Ihre Hände tasteten zu den Augen.
Tränen.
Das erste Mal seit gestern Mittag…
Vivienne