Karriere geht vor? – Die bunte Welt von Vivienne

Ich duckte mich unwillkürlich ein wenig tiefer als Frau Margot Sonnleitner zu uns ins Büro kam. Frau Sonnleitner war Assistentin der Geschäftsleitung und zudem seit über zwanzig Jahren mit dem Betriebsrat, Joachim Steiner, liiert. Frau Sonnleitner galt als richtiger Drachen, man konnte es ihr schwer recht machen. Wenn man meinte, etwas korrekt und gut erledigt zu haben, fand sie sicher einen anderen Weg – und der war bestimmt besser. Meinte halt sie. Kollegen, die länger in der Firma waren als ich, kannten sie noch besser. Man war einhellig der Meinung, dass der Grund für ihr Wesen in ihrer einige Jahre zurückliegenden Krebserkrankung zu finden war. Sonnleitner, die jetzt Ende Vierzig sein dürfte, war eine durchaus attraktive Frau. Auch wenn ein paar harte Linien in ihrem Gesicht Rückschlüsse auf die furchtbare Krankheit zuließen. Die Brüste, die beide amputiert werden mussten, wurden später in einigen Operationen rekonstruiert. Der Krebs schien besiegt, fast acht Jahre schon waren bei den Nachuntersuchungen keine Tumorzellen mehr gefunden worden.

Durchaus ein Grund, die Frau zu bewundern: für ihre Disziplin, für ihr Durchhaltevermögen, für den Mut, hart zu sich selber zu sein. Ich mochte sie trotzdem nicht, sie schien mir eine Spur zu perfekt. Und die Härte übertrug sie mit großer Selbstverständlichkeit auf die Mitarbeiter. Irgendwie war sie schon  die Firma selbst, eine Institution, die durch ihr langjähriges Verhältnis mit dem Betriebsrat ihren Einfluss überall geltend machte, natürlich zum Wohle der Firma. – All das ging mir durch den Kopf, als sie im Büro erschien. Als sie plötzlich an meinen Schreibtisch trat, zuckte ich zusammen und presste die Lippen zusammen. Aber Frau Sonnleitner meinte nur, ich möge nachher in ihr Büro kommen. Einige Broschüren müssten verschickt werden, die Liste der Adressaten hatte sie tatsächlich schon gemailt. Ich sollte einfach nur die Kartons abholen. Ich nickte – bei Frau Sonnleitner wusste man ja nie…

Am frühen Nachmittag machte ich mich auf den Weg ins Erdgeschoß, wo die Geschäftsleitung residierte. Frau Sonnleitner wies mich noch auf ein paar Details hin. Ich packte die Kartons auf ein Gefährt und wollte hinausfahren. Frau Sonnleitner blickte mich die ganze Zeit an und fragte schließlich völlig unerwartet: „Haben Sie eigentlich Kinder?“ Ich schluckte und räusperte mich. „Nein, aber mein Mann hat eine Tochter aus einer früheren Beziehung. Ich bin natürlich kein Mutterersatz, aber ich komme gut aus mit ihr.“ Was um alles in der Welt will sie von mir? ging mir durch den Kopf. Wen interessiert das, ob ich Kinder habe? Frau Sonnleitner musterte mich. Ich wagte nichts zu sagen und fühlte mich unter ihrer Beobachtung nicht wohl. Plötzlich brach sie das Schweigen. „Wollten Sie nie eigene Kinder?“ Was für eine Frage! dachte ich mir. „Es hat sich nicht ergeben…“ antwortete ich mit trockenem Hals.

Frau Sonnleitner stand auf und trat zu mir. „Es scheint ihnen nichts auszumachen…“ fuhr sie fort. Ich zuckte die Achseln. „Mutterschaft – wie kann ich sie vermissen, nachdem ich sie nie genossen habe…?“ „Meinen Sie?“ unterbrach mich Frau Sonnleitner laut. „Meinen Sie wirklich?“ Ich überlegte fieberhaft. Was sollte ich nur sagen? Ganz schnell konnte ich es mir mit ihr wieder verscherzt haben. Aber Frau Sonnleitner wartete gar nicht auf eine Antwort. Sie wandte sie ab von mir und drehte mir halb den Rücken zu während sie auf die Wand vor sich starrte. „Wissen Sie, ich wollte immer Kinder. Irgendwann einmal. Aber zuerst…“ Sie sah mich wieder an und auf einmal wirkte sie nicht mehr hart und diszipliniert sondern waidwund. „…zuerst wollte ich Karriere machen. Etwas erreichen im Leben… Und ich kann zufrieden sein, durchaus.“ Sie atmete schwer. So kannte ich Frau Sonnleitner nicht, so persönlich und so verletzbar.

Frau Sonnleitner zündete sich eine Zigarette an und bot mir auch eine an. „Ich war achtundreißig, wissen Sie. Erstmals setzte ich mich ernsthaft mit dem Gedanken an eine Schwangerschaft auseinander… Bei einem Routinebesuch beim Frauenarzt wurden die Tumore entdeckt. Mastektomie, Chemo, Bestrahlung. Ich fiel aus dem Schloss meiner Träume und schlug sehr hart auf, glauben Sie mir. Und die Chancen die Krankheit zu besiegen schienen zunächst nicht besonders gut. Aber ich schaffte es. Mit vierzig war ich wieder frei von Krebszellen. Und mehr denn je wollte ich ein Kind…“ Frau Sonnleitners Blick verlor sich in einer Ecke des Büros. Aber alle Ärzte rieten mir ab, eine Schwangerschaft würde sehr wahrscheinlich zu einem Wiederaufflackern der Tumore führen. Ich habe über ein halbes Dutzend Koriphäen konsultiert, alle dieselbe Antwort. Nur einer hätte es riskiert, aber ihm gings nur um’s Geld und nicht um mir zu helfen. Deshalb verzichtete ich…“ Ich begriff, dass ich nichts sagen sollte, sondern nur zuhören. Der versteckte Kummer von Frau Sonnleitner war wieder akut geworden. Man konnte vieles an dieser Stelle sagen – mein Vater war vor kurzem erst seinem schweren Krebsleiden erlegen. Aber konnte es ein Trost für sie sein, dass sie lebte?

Ich schenkte Frau Sonnleitner wortlos eine Tasse Kaffee ein. Und als ich ihr diese in die Hand drückte, bemerkte ich Tränenspuren auf ihrem Gesicht. Ich verlor kein Wort, sah ihr nur zu wie sie schluckweise trank und kippte schließlich das Fenster um frische Luft hereinzulassen. Dabei war ich mir nicht sicher, ob ich nicht einfach nur schweigen hätte sollen, da stehen und nichts tun. Aber ganz falsch mochte es dann trotzdem nicht gewesen sein. Mit leiser Stimme begann sie zu sprechen und reichte mir schließlich noch ein paar Belege, dann nickte sie mir zu. Ich verstand und verließ mit dem Gefährt, auf dem die Kartons lagen, ihr Büro. Jede Menge Gedanken gingen mir durch den Kopf. Aber eines war mir dabei völlig klar. Diese Viertelstunde heute, die sollte unser Geheimnis bleiben, das von Frau Sonnleitner und mir…

Vivienne/Gedankensplitter

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