Lasst mich in Ruhe!

Alle starrten auf Nina.
Nina war aufgestanden.
Hedwigs Arm hatte sie gerade wieder los gelassen.
Hedwig warf Nina einen wütenden Blick zu.
Dann setzte sie ein betont falsches Lächeln auf.
Was hast du denn, Nina?
Bist du etwas gereizt heute?
Ich habe doch gar nichts gesagt!
Nina drehte sich um.
Auf dem Tisch stand das halbvolle Glas Sekt.
Ihr Glas.
Vor Minuten hatten sie in der Firma noch auf den tollen Auftrag angestoßen.
Die Firma hatte ihn an Land gezogen.
Nach Wochen des Hoffens und Bangens.
Welch ein Triumpf in den Augen des Firmeninhabers!
Alle hatten sie gestrahlt heute Abend.
Nina spürte die Augen der anderen im Rücken.
Sie griff nach ihrer Tasche und ging hinaus.
Widerstand der Verlockung, die Türe zuzuschlagen.
Tat ganz so, als wäre nichts gewesen.
Obwohl Hedwig immer wieder in dieser Wunde gestochert hatte…
Mit Absicht…

Minuten später saß sie auf der untersten Stufe der Treppe.
Tränenspüren auf dem Gesicht.
Verwischte Wimperntusche.
Und ein alter Schmerz.
Der weh tat wie nie zuvor.
Gunter Kögler.
Ihr Kollege.
Mehr als das.
Fast schon ein Freund.
Mit dem man Lachen und Blödeln konnte.
Und den sie sehr gern hatte.
Mehr als nur gern…
Ein Bild tauchte vor ihrem Auge auf…
Wie Gunter in die Firma gekommen war.
Mittelgroß.
Stämmig.
Blond.
Und ein überaus sympathisches Lächeln ins Gesicht gezeichnet.
Nett und umgänglich.
Nina dachte nach.
Wann hatte sie sich ihn verliebt?
Sie hätte es nicht mehr sagen können.
Es war ihr so beiläufig bewusst geworden.
Und nicht wirklich schmerzhaft.
Ob der Sinnlosigkeit der Gefühle…

Sie selber war verheiratet.
Lebte mit Paul schon lange nicht mehr miteinander.
Sondern nebeneinander.
Mit beiläufigem Sex.
Ohne Höhepunkte.
Und ohne wirkliche Gefühle.
Und Gunter?
Er hatte die Mutter seiner beiden Kinder verlassen.
Und war frisch verliebt.
Eine junge Person, die im Magistrat arbeitete…
Es war ihr egal.
Schließlich musste sie die Frau nie sehen.
Aber sie bezog Kraft aus der Romanze.
Die völlig harmlos war.
Aus den Gesprächen.
Aus den gemeinsamen Kaffeepausen.
Wenn sie ehrlich war.
Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht.
Was die Kollegen dachten.
Ob sie was merkten.
Und was sie heimlich tuschelten.
Vielleicht.
Es berührte sie nicht.
Außerdem.
Sie hätte alles bestritten.
Jederzeit.
Ins Reich der Fantasie verwiesen.
Nein.
Sie wollte sich nie eine Blöße geben.
Niemals.
Die Leute waren ihr im Grunde egal.
Genauso wie ihre Meinungen.
Außer Gunter.
Und der liebte sie nicht.
Aber sie genoss jeden Moment mit ihm.
Jede noch so belanglose Unterhaltung.
Und das wollte sie sich nicht nehmen lassen…

Diese harmlose Romanze lief ewig.
Wäre wohl auch noch ewig gelaufen.
Wenn nicht Hedwig gewesen wäre.
Hedwig.
Die neue Assistentin des Firmeninhabers.
Ein Biest.
Vornehmer konnte man sie nicht beschreiben.
Knallrote Lippen und Fingernägel.
Bosheit im Blick.
Ihre Sticheleien kamen wirklich wie Nadelstiche.
Aber Gunter macht doch ohnedies alles für dich?
Oder?
Oder als Gunter von einer längeren Dienstreise zurückgekommen war.
Gunter hat dich sicher sehr vermisst.
Nicht wahr?
Beiläufig immer wieder.
Gunter hat doch immer Zeit für dich!
Das wissen wir doch alle!
Hundert Varianten.
Jede für sich nicht schlimm.
Aber tausend Nadelstiche schmerzen…

Nina zog ein Taschentuch aus der Tasche.
Betupfte ihre Augen.
Wischte die Farbe weg.
Es war egal, wie sie heute noch aussah.
Sie würde ohnedies gleich heimfahren…
Hedwig war nicht das Problem.
Hedwig drückte vermutlich nur aus, was die anderen dachten.
Boshaft und verletzend.
Es wussten also alle, dass sie in Gunter verliebt war.
Und sie amüsierten sich darüber.
Und rissen dumme Witze.
Im Grunde hatte sie, Nina, doch keine Chance.
Wer war sie schon im Vergleich mit der kleinen Blonden, mit der er lebte…!
Wie Gunter zu ihr stand?
Sie wollte es nicht wissen.
Nicht wirklich.
Sie waren Kollegen.
Aber wirklich wichtig war sie ihm sicher nicht.
Vielleicht amüsierte er sich selber auch über sie.
Aber sie hatte nie darüber nachgedacht.
Es war ihr egal gewesen.
Bis Hedwig aufgetaucht war.
Hedwig, die Schlange.
Die in Worte kleidete, was alle dachten…

Zu anfangs hatte sie, Nina, noch versucht Hedwig zu ignorieren.
Aber es hatte sie zusehends Kraft gekostet.
Weil ihr die Unausgegorenheit der Geschichte bewusst geworden war.
Weil eben Gefühle doch nicht spurlos an einem vorüber gehen.
Einige Zeit kann man sich etwas vormachen.
Aber irgendwann muss man sich damit auseinandersetzen.
Sie zur Kenntnis nehmen.
Und sich klar machen.
Ich liebe diesen Mann.
Er bedeutet mir so viel.
Und ich muss damit umgehen lernen…
Im Grunde war Hedwigs Äußerung vorhin dumm gewesen.
Dumm und geistlos wie sie selbst.
Aber sie, Nina, war dennoch in Rage geraten…
Na?
Willst du deinem Gunter nicht um den Hals fallen?
Damit ihr euch miteinander freuen könnt?
Und sie, Nina, hatte Hedwig am Arm gepackt.
Voller Hass.
Und hatte Hedwig angezischt.
Pass auf, du dumme Gans.
Gunter ist nicht mein Gunter.
Wird Zeit, dass du das kapierst…
Hedwigs erschrockener Blick hatte sie einen Moment für alles entschädigt.
Einen Moment.
Dann war ihr der Faux pas bewusst geworden.
Sie hätte nie so aufbrausen dürfen…
Nina stand wieder auf.
Kontrollierte ihr Gesicht im Spiegel.
Dann wandte sie sich zur Bürotür…
Zeit, wieder zu den anderen zu gehen.
Trotzdem bereute sie ihren Ausbruch nicht im Geringsten!
Diese Leute hier!
Sie sollten sie einfach in Ruhe lassen!
Mehr wollte sie gar nicht…

Vivienne

Schreibe einen Kommentar