von Vivienne – April 2004
Die neue Kollegin
Die beiden Techniker, Ralf Mayerhofer und Ernst Kogler, standen in der Betriebsküche.
Sie lachten lauthals.
Gossen den duftenden Kaffee in ihre Tassen.
Amüsierten sich über einen Witz.
Einen dürftigen Witz.
Sie lachten noch immer.
Während sie in das Büro gingen.
Die Tage nach Weihnachten und Neujahr waren immer ruhig.
Keine Eile.
Es tat sich nichts in dieser Woche.
Kollege Müller war überhaupt auf Urlaub.
Recht hatte er.
Frau und Kind warteten daheim.
Ralf überlegte, ob er sich noch einen Kaffee holen wollte.
Er stand auf.
Mit dem leeren Häferl.
Unerwartet schwang die Tür auf.
Na die Herren?
Schwer im Stress?
Frau Burger, die Personalchefin, trat ein.
Eine kleine, gedrungene Person.
Aber mit Schwung.
Im Schlepptau eine mittelgroße Frau.
Schlank.
Brünett.
Mitte Zwanzig, schätze Ralf.
So blass, dass es durch das Make Up schimmerte.
Alice Walther.
Eure neue Kollegin.
Na, wollt ihr sie nicht begrüßen?
Ralf zog die Augenbrauen hoch.
Hallo.
Ein unerwartet fester Händedruck empfing ihn.
Mit seinem Blick versuchte er ihre Augen zu fangen.
Aber Alice Walther wich ihm aus.
Schüttelte die Hand des Kollegen.
Lächelte unverbindlich.
Fast kalt.
Kollege Müller werden Sie nach Dreikönig kennen lernen.
Und ihr beiden:
Seid nett zur neuen Kollegin.
Und überarbeitets euch nicht!
Frau Burger lächelte leicht boshaft.
Alice Walther folgte ihr ohne ein weiteres Wort.
Nur ein hallo.
Ralf rief sich ihr Gesicht in Erinnerung.
Apart.
Mit dutzenden Sommersprossen.
Er hätte gern gewusst wie viele.
Kogler stieß ihn an.
Hey.
Die gefällt dir, was?
Und dann lachten beide.
Alice saß an ihrem Schreibtisch.
Klickte am PC herum.
Das Programm war ihr nicht geläufig.
Frau Burger stand hinter ihr.
Lassen Sie sich Zeit, Frau Walther.
Der Chef hat gesagt, Sie müssen sich nicht stressen.
Legte die Hand begütigend auf die Schulter der neuen Mitarbeiterin.
Alice zuckte zusammen.
Aber sie sagte nichts.
Im Grunde musste sie froh sein
Ein harter Zug wurde auf ihrem Gesicht sichtbar.
Über was denn noch?
Frau Burger sah auf die Uhr.
Es war nicht spät.
Sie hatte keinen Stress.
Aber sie spürte die Kälte.
Die von der neuen Kollegin ausging.
Sie biss sich auf die Unterlippe.
Ich bin im Büro, wenn Sie mich brauchen.
Langsam ging sie ein paar Schritte rückwärts.
Blickte unverwandt zu Alice.
Die bewegte sich nicht.
Danke.
Nur ein Wort.
Frau Burger schüttelte den Kopf.
Alice Walther lag im Bett.
Es war kurz nach zwei Uhr.
Wieder konnte sie nicht schlafen.
Seit Stunden wälzte sie sich im Bett.
Ohne eine Minute Schlaf.
Alice stand auf.
Öffnet das Fenster.
Blickte in die Nacht.
Der Himmel war wolkenverhangen.
Es war empfindlich kalt.
Alice fröstelte.
Sie griff sich an die Brust.
Spürte den Stoff des Nachthemds zwischen ihren Fingern.
Früher hatte sei immer nackt geschlafen.
So kalt konnte es gar nicht sein.
Aber jetzt
?
Es spielte keine Rolle mehr.
Alice schloss das Fenster wieder.
Ging zu ihrem Bett zurück.
Legte sich wieder hinein.
Machte das Radio an.
Drehte das Licht aus.
Konzentrierte sich auf die Musik.
Und drehte sich wieder einmal auf die Seite.
Ihre Augen waren offen.
Als fixierte sie etwas.
Im Dunkel ihres Schlafzimmers.
Okay, die Wette gilt.
Du gehst spätestens in einer Woche mit ihr essen.
Und dann werden wir sehen.
Ob die Schöne noch immer so spröde ist.
Ernst Kogler klopfte seinem Kollegen auf die Schulter.
Ralf streifte die Hand Koglers ab.
Eine Wette hatte er im Grunde nicht gewollt.
Nicht wirklich.
Aber die Kollegin hatte es ihm angetan.
Alice Walther.
Eben weil sie so unnahbar war.
Eben weil sie auf seinen Charme nicht so reagierte.
Diese Wette
Sie war nur ein zusätzlicher Anreiz
Neben Alice.
Die ihn fesselte.
Und sie hatte etwas zu verbergen.
Das spürte er.
Manchmal hatte er das Gefühl, das sie sich fürchtete.
Aber wovor?
Alice Walther warf die Handtasche achtlos auf die Couch.
Essen gehen?
Mit diesem Kollegen?
Sie musste verrückt geworden sein.
Aber sie hatte ja gesagt.
Ohne es wirklich zu wollen.
Ein bitteres Lächeln entstellte ihren Mund.
Soll er seinen Spaß haben
Sie zog die Schuhe aus.
Lief barfuß ins Bad.
Schloss die Tür hinter sich.
Wozu?
Sie fragte sich das kopfschüttelnd.
Wer würde sie hier schon sehen
Das heiße Wasser tat gut.
Sie schloss die Augen.
Das Wasser prasselte in ihr Gesicht.
Und einen Moment lächelte sie.
Dann zerrann der Tagtraum.
Wie der Schaum des Duschgels.
Alice trocknete sich ab.
Ralf strahlte über das ganze Gesicht.
Alice saß ihm gerade gegenüber.
Im Restaurant.
Hübsch.
Und manchmal sah sie gar nicht so hart aus wie sonst.
In der Arbeit.
Jede Frau hatte ihren weichen Kern.
Er hatte es gewusst.
Aber ein wenig Ausdauer lohnt immer.
Als er zahlte, setzte sich ein Schmunzeln in sein Gesicht.
Er konnte es nicht verbergen.
Jetzt würde er sie nach Hause bringen
Und alles so einfach…
Im Auto war Alice wieder schweigsam.
Vor ihrem Wohnblock parkte er ein.
Ralf sah Alice wortlos an.
Er nahm sie in den Arm.
Küsste sie.
Zärtlich.
Auf den Mund.
Auf ihre Zunge.
Auf das Kinn.
Als seine Zunge über ihren Hals streichelte, stieß ihn Alice plötzlich zurück.
Okay.
Du willst mich abschleppen, was?
Ralf blickte erschrocken auf Alice.
Ihre Augen funkelten wütend.
Weißt du überhaupt, auf was du dich einlässt?
Alice zog den Pulli über den Kopf.
Ralf begriff nicht.
Sah verwirrt zu, wie sie den Büstenhalter öffnete.
Bitte bedien dich!
Das turnt dich doch sicher an?
Es war fast dunkel im Auto.
Trotzdem konnte er erkennen, dass Alices rechte Brust kleiner war.
Missgeformt.
Durch eine dicke, rötliche Narbe entstellt.
Krebs.
Mit Fünfundzwanzig.
Alice sagte es leise.
Emotionslos.
Vor einem guten Jahr operiert.
Chemo.
Ein Jahr daheim.
Dabei hatte ich noch Glück.
Ich hätte die ganze Brust verlieren können.
Oder beide.
In einem Jahr darf ich drüber nachdenken, ob ich diese Brust mit Silikon verschönern lassen kann.
Wenn ich wieder Glück habe.
So schön wie vorher wird sie nie mehr.
Sie zog sich wieder an.
Stieg ohne ein Wort aus.
Ralf saß da.
Er hätte sich ohrfeigen können.
Alice saß vor dem Fernsehgerät.
Zippte durch.
Ein endloses Wochenende lag vor ihr.
Und kein Film, keine Serie, die ihr gefiel.
Das Läuten an der Tür fiel ihr zuerst gar nicht auf.
Wahrscheinlich ein Nachbar.
Der Zucker oder Salz brauchte.
Alice lächelte.
Allein die Vorstellung war amüsant.
Sie schloss die Tür auf.
Vor ihr ein großer Blumenstrauß.
Direkt in Augenhöhe.
Weiße Lilien.
Rosafarbene Lilien.
Schleierkraut.
Mit offenem Mund betrachtet Alice den Strauß.
Schließlich bemerkte sie zwei Augen.
Zwei Augen, die sie unverwandt anblickten.
Ralf.
Ralf zog den Strauß nach unten.
Guten Tag.
Ich heiße Ralf.
Und ich bin ein selbstgerechter Draufgänger.
Der sich für unwiderstehlich hält.
Ralf war nervös.
Suchte die kleinste Reaktion von Alice zu deuten.
Alice begann zu lachen.
Ihre Augen strahlten.
Nun, wo du schon da bist…
Komm herein…
Ich beiße nicht.
Link: Alle Beiträge von Vivienne