Schlimmer als Prügel

Anita zündete sich wieder eine Zigarette an.
Es war die fünfte oder sechste.
In einer halben Stunde.
Anita schüttelte den Kopf.
Ganz in Gedanken.
Vorhin war sie bei ihren Eltern gewesen.
Ein Fehler.
Das übliche Gesülze nervte sie jetzt noch.
Aber du kannst doch nicht alles wegwerfen?
Einfach gehen?
Nach über fünf Jahren?
Und die Eigentumswohnung?
Da steckt doch so viel Geld von dir drinnen!
Das wirst du doch nicht alles aufgeben?
Rede doch noch einmal mit ihm!
Überleg dir diesen Schritt!
Kind, du machst einen furchtbaren Fehler!

Anita stand auf.
Ging durch das Wohnzimmer.
Kind!
Aggressionen stiegen in ihr hoch.
Sie war kein Kind mehr!
Sie war einunddreißig Jahre alt!
Und sie hatte sich diesen Schritt wohl überlegt.
Sie hatte sich sogar diese Wohnung organisiert.
Halbleer zwar noch.
Aber das spielte keine Rolle!
Nur weg von Erwin!
Der Mann hatte sie alle Nerven der Welt gekostet.
Und fast alle ihre Kraft.
Er hatte sie zermürbt…
Wütend dämpfte sie die Zigarette aus.
Sie hatte sich diesen Schritt nicht nur gut überlegt.
Sie hatte viel zu lange gewartet.
Fast zu lange…
Erwin hatte sie beinahe kaputt gemacht…

Anita ging ins Bad.
Zog sich aus.
Minuten später spürte sie den kalten Wasserstrahl der Dusche.
Im Gesicht.
Am Nacken.
Und am ganzen Körper.
Anita atmete tief ein und aus.
Sie entspannte sich.
Begann sich zu beruhigen.
Das Wasser wurde ganz kalt.
Aber es kühlte ihr Gemüt.
Sie fühlte sich müde aber ruhiger.
Sie zog den Bademantel an.
Rubbelte ihren kurzen Haarschopf trocken.
Und setzte sich auf einen Stuhl in der Küche.
Es war jetzt leichter.
Leichter über Erwin nachzudenken.
Ein Resümee zu ziehen.
Über diesen Mann.
Den sie einmal so geliebt hatte.
Den sie heiraten hatte wollen.
Noch vor zwei Jahren.
Und durch den sie doch so unglücklich geworden war.
Wie noch nie in ihrem Leben.

Anitas Hände zitterten.
Sie wollte sich eine Zigarette anzünden.
Und zögerte trotzdem.
Erwin…
Sie gab es ja zu.
Sie war kein einfacher Mensch.
Vor Erwin hatte sie es nie lange mit einem Mann ausgehalten.
Sie war ein Freigeist.
Unabhängig.
Stark.
Und sie liebte ihre Freiheiten.
Auf manches legte sie viel Wert.
Auf ihre Wandertouren etwa.
Die sie durch Wälder und ins Gebirge führten.
Eins mit der Natur.
Und oft allein…
Vielleicht war sie nicht zur Zweisamkeit geschaffen.
Oder sie brauchte einen sehr nachsichtigen Gefährten.
Der ihr diese Freiheiten zugestand.
Anita setzte sich ruckartig gerade hin im Stuhl.
Erwin war dieser Mann nicht gewesen!

Er war ein Pedant.
Immer schon gewesen.
Aber seit dem letzten Jahr war es eine Manie bei ihm geworden.
Regelmäßige Besuche bei seinen Eltern.
Zu festgesetzten Zeiten.
Fast ein Ritual.
Lange hatte sie es hingenommen.
Bis sie begonnen hatte sich zu verweigern.
Immer öfter…
Anita seufzte.
Erwin hatte auf seine Weise darauf reagiert.
Er hatte sie angeschwiegen.
Eiskalt.
Oft über Tage.
Oder sogar eine Woche…
Zunächst hatte sie sich oft entschuldigt bei ihm.
Um Vergebung gebettelt.
Aber irgendwann hatte sie begriffen.
Es war nicht unbescheiden was sie wollte.
Ganz im Gegenteil.
Es stand ihr zu.
So wie Erwin seine Abende im Sportverein.
Oder seine monatlichen Treffs mit den Kollegen.
Nur ihr wollte er ihre Freiheiten nicht zugestehen…

Kein Streit.
Erwin schwieg weiter.
Je mehr Anita aufbegehrte.
Seine Eltern straften sie mit Verachtung.
Äußerten sich abfällig über den Haushalt, den sie führte.
Während Erwin schwieg.
Unfähig zu einem Dialog.
Unfähig die Spannungen zu lösen.
Sie hatte seine Kälte kaum noch ertragen können.
Sein Schweigen war für sie schlimmer wie Prügel.
Ein Bekannter griff ihr bei der Wohnungssuche unter die Arme.
Wie hatte Horst ihr geraten?
Bei dem Kerl gehst du noch kaputt.
Wie viele Jahre willst du noch wegwerfen an ihn?
Verlass ihn!
Jetzt!
Sonst wirst du es nie tun!
Und genau das hatte sie getan.
Sie hatte Erwin verlassen.
Vor drei Wochen erst…
Erwin hatte sie nur angestarrt.
Auch damals hatte er kein Wort verloren.
Nur sein ungläubiger Blick verriet eine Reaktion…

Sie konnte mit allem leben.
Mit Erwins Schweigen.
Das sie unter Druck setzen sollte.
Es gab nichts Schlimmeres als einen Mann.
Mit dem man Konflikte nicht ausdiskutieren konnte!
Mit der Verachtung seiner Eltern.
Seine Mutter hatte sie erst dieser Tage angerufen.
Und sie, Anita, beschimpft.
Mit dem nervigen Getue ihrer Eltern.
Die das Ende der Beziehung nicht wahrhaben wollten.
Wegen der Eigentumswohnung!
Als ob es darum ginge!
Nein!
Es ging nicht um die Meinung der anderen.
Oder um diese verdammte Wohnung.
Es ging nur um sie selbst.
Anita.
Dass es ihr gut ging.
Und dass sie sich gelöst hatte von einem Mann.
Dessen Schweigen schlimmer als Prügel gewesen war…

Vivienne

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