Tierarzt, bitte kommen!

Neulich kam ich von einem Tagesausflug am Wochenende erst gegen Mittagnacht heim. Die Nacht war lau und warm, und ich war nicht überrascht, dass Stocki nicht faul daheim in seinem Kistchen lag. Wahrscheinlich war er wie üblich im Sommer viel lieber auf den Feldern vor unserem Haus unterwegs, und Gott allein wusste, welchem Getier er wieder einmal auf der Spur war. Als ich dann am nächsten Vormittag aufstand, überraschte mich allerdings die Tatsache, dass mein roter Kater auch zum Frühstück nicht erschienen war. Einigermaßen seltsam, denn Stocki stand normalerweise im Sommer schon früh morgens vor der Tür, wo er lautstark um Einlass begehrte, und gleich danach auch um Futter. Mein Vater, der bisweilen schon recht bald auf den Beinen ist, hatte dann zumeist das Vergnügen, immer und immer wieder für Nachschub zu sorgen, denn so ein unternehmungslustiger Kater hatte jede Menge Bedarf an Kohlehydraten…

Stocki war also noch immer nicht zur Fütterung erschienen. Trotzdem machte ich mir keine wirklich großen Sorgen. Wahrscheinlich, so überlegte ich, lag er hinten im Garten in der Sonne und genoss die warmen Temperaturen! Ich frühstückte also gemütlich, traf die Vorbereitungen um den Sonntagsbraten in die Backröhre zu schieben und verzog mich wieder vor den PC. Es musste kurz vor Mittag gewesen sein, als ich wieder in der Küche werkte. Der Braten war fast fertig, und draußen im Stiegenhaus unterhielten sich meine Eltern, wie nicht zu überhören waren. Als ich hinaustrat, war Stocki gerade im Begriff, seinen Körper an den Beinen meines Vaters zu reiben. Er schnurrte und miaute immer wieder laut! „Mein Stocki!“ lockte ich meinen Kater zu mir, der sich nicht bitten und mich all seine Zärtlichkeit spüren ließ. So deutlich, dass ich mich gar nicht mehr erinnern konnte, wann das zuletzt der Fall gewesen war.

Mich befiel ein gewisses Misstrauen, und als ich so von oben auf den roten Kater herabblickte, feil mir auf, dass seine Nase Blut verschmiert war. Mehr als das: er war leicht entstellt, weil die Hautpartie neben der Nase irgendwie ein Stück weiter links war als zuvor, so als hätte ihn ein gewaltiger Prankenhieb so schwer verletzt. Mein Gott, dachte ich mir, was hast du jetzt schon wieder angestellt! Ich griff ohne zu zögern zum Telefon und rief unseren Tierarzt an. Und ich hatte Glück: Dr. Meiringer erklärte sich bereit, sofort zu kommen, während mich Stocki weiter mit Zärtlichkeiten überschüttete. Das Futter hingegen rührte er nicht an, wohl, weil er so große Schmerzen hatte. Nach einer Viertelstunde hörte ich den Wagen von Dr. Meiringer vor unserem Haus.

Ich empfing ihn mit Stocki im Arm. Ich machte mir große Sorgen, dass Stocki vielleicht genäht werden müsste. Der Tierarzt war aber die Ruhe selbst, er begutachtete den Kater intensiv und fragte mich, wann der Kater die Verletzung erlitten hatte. Ich zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich schon letzte Nacht, er ist meistens viel draußen, und wir haben uns nichts dabei gedacht, als er heute nicht zum Frühstück kam. Aber…“ Ich stockte. „Das sieht nicht gut aus. Müssen Sie ihn nähen?“ Dr. Meiringer schüttelte den Kopf. „Da kann ich nichts mehr machen, die Verletzung ist zu alt. Das muss von selber heilen.“ Aber dafür hatte der Tierarzt meinem Stocki noch einige Injektionen zu verabreichen. Ich hielt meinen Liebling fest, denn der Kater empfand die Spritzen als sehr unangenehm, und ein paar Mal hätte er mich am liebsten gebissen, um mir zu entfliehen.

Aber nur beinahe, die Furcht vor mir war letztlich doch stärker als die Furcht vor der unangenehmen Behandlung. Als die Prozedur, die einige Minuten dauerte, beendet war, ließ ich Stocki sofort wieder los und er sprang davon. Wenige Schritte von mir entfernt blieb er sozusagen in Sicherheitsabstand stehen und begann sich zu putzen. Ich verabschiedete mich von Dr. Meiringer und Stocki trat nun doch zur Futterschale um ein paar Bröckerl des Katzenfutters zu verzehren. Ich beneidete meinen Kater nicht. Und so schön wie zuvor würde er wohl nie wieder sein, das wurde mir in diesen Minuten auch bewusst. Aber war das nicht egal? Oder besser gesagt, viel besser, als wenn er womöglich an einer Blutvergiftung sterben würde, wie mich der Tierarzt auf die Folgen der Verletzung hingewiesen hatte?

„Du machst Sorgen!“ redete ich mit dem Kater, während ich ihn sanft streichelte. Nach Minkis Tod schon wieder so eine Schrecksekunde. Kein gutes Jahr für die Katzen in unserer Familie, wurde mir einmal mehr bewusst, denn auch der junge, rote Kater von meiner jüngeren Schwester und ihrer Familie musste erst kürzlich sein freies, ungezügeltes Leben mit dem Tod bezahlen… Dabei planten wir nach dem Tod von Stockis Mutter wieder ein kleines Kätzchen zu uns zu nehmen. Wie würde das erst mein Kater aufnehmen?

Vivienne

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