Hans Karner stand an der Bar des Lokals.
Eingehüllt in eine Rauchwolke.
Er fühlte sich etwas benommen.
Aber nicht wegen des Rauchs.
Oder wegen des Lärms.
Nein.
Er schüttelte den Kopf.
Als wollte er sich lösen.
Lösen von dem Rauch.
Der ihn umgab.
Und von den Gedanken…
Er war vorhin noch bei Veronika gewesen.
Veronika, seiner Frau.
Totenblass war sie in ihrem Bett gelegen.
Im Spital der Stadt.
Völlig verändert.
Wenn er sie verglich, mit dem Bild vor fünf Jahren…
Sie war kaum mehr wieder zu erkennen.
Obwohl sie noch so jung war.
So jung…
36 Jahre alt.
Und sie würde sterben.
Vermutlich in den nächsten Monaten schon.
Sterben an einem teuflischen Tumor.
Der seit Jahren in ihr tickte.
Wie eine Zeitbombe.
Und niemand hatte es geahnt.
Hans starrte das halbleere Glas vor sich an.
Vor einem Jahr war die Welt noch in Ordnung gewesen.
Für ihn.
Und für Veronika.
Vor einem Jahr erst!
Die Welt schien offen zu stehen.
Für sie beide.
Glücklich verheiratet.
Drei Kinder.
Und sie bauten sich gerade ein hübsches Haus…
Ein Nest.
Am Stadtrand von Linz.
Ein traumhafter Ort.
Ideal, um den Kindern beim Aufwachsen zuzusehen…
Hans presste die Augen zusammen.
Er spürte die Tränen.
Aber er wollte sie nicht zulassen.
Nein.
Kein Selbstmitleid!
Auch wenn seit den letzten zwölf Monaten seine heile Welt in Trümmer lag.
Seit jenem Morgen im April…
Veronika hatte mit der Kleinen zum Arzt wollen.
Sie fieberte.
Den zweiten Sohn hatte sie mitgenommen.
Auf sein Drängen hin.
Der Ältere war schon im Kindergarten.
Die Nachbarin hatte ihn mitgenommen.
An einer Kreuzung hatte die Kleine zu schreien begonnen.
Veronika hatte den Buben losgelassen.
Nur für eine Minute.
Um die Kleine zu beruhigen.
Und da war der Bub auf die Straße gelaufen.
Bei Rot.
Keiner konnte nachher erklären, warum.
Ein Auto erwischte ihn.
Und schleuderte ihn weit weg…
Hans erinnerte sich an diesen Tag.
Als wäre es gestern gewesen.
Sie hatten ihn angerufen in der Arbeit.
Sein zweiter Sohn war auf der Stelle tot gewesen.
Genickbruch.
Und schwere innere Verletzungen.
Veronika war im Spital gelegen.
Sie hatte einen Schreikrampf erlitten.
Hatte noch nach Stunden nicht den Tod ihres Sohnes realisiert.
Sie kam erst eine Woche später wieder nach Hause.
Blass und schmal.
Nicht ein Hauch mehr die Frau, die sie gewesen war.
Lebendig.
Lebenslustig.
Fröhlich.
Der Bub war ihr Liebling gewesen.
Beider Liebling, genau genommen.
Blonde Locken.
Blaue Augen.
Ganz seine Mutter.
Sein Tod hatte ihr das Lebensmark entzogen…
Niemand konnte etwas dafür.
Für diesen Tod.
Niemand hätte ahnen können.
Dass der Bub auf die Straße laufen würde.
Weil sie ihre Tochter beruhigen wollte.
Nur einen Moment.
Aber Veronika war gebrochen.
Sie lachte nicht mehr.
Sie wollte die beiden anderen Kinder nicht mehr aus dem Haus lassen.
Sie klammerte sich an sie.
Und wollte doch nur eines.
Aufwachen.
Wie aus einem bösen Traum.
Ihren toten Sohn wieder in den Armen halten…
Hans riss sich aus der Erinnerung.
Eine grell geschminkte Frau lachte ihn an.
Na?
So allein?
Er wandte sich ab.
Eine zeitlang hatte er gehofft, Veronika würde das alles verarbeiten.
Ihre Schuldgefühle.
Ihre Ängste.
Und dann ein neues Kind.
Quasi als Eratz für den Buben…
Aber Veronika wollte kein Kind mehr.
Nein.
Sie wollte nur ihren Buben.
Im halbfertigen Haus standen überall Fotos von dem Kleinen.
Fotos, die die Wunde nicht heilen ließen.
Dessen war er sich sicher.
Hilflos stand er vor dieser Situation.
Veronika redete kaum mehr.
Und sie wollte nicht mehr mit ihm schlafen.
Veronika wurde immer dünner.
Und manchmal klagte sie über Schmerzen.
Im Bauch.
Und im Rücken.
Geh doch zum Arzt!
Er sagte es ihr immer wieder.
Eines Tages riefen sie ihn wieder in der Arbeit an.
Veronika war daheim gestürzt.
Hatte furchtbare Schmerzen bekommen.
Er war sofort zu ihr ins Spital gefahren.
Der Arzt war direkt gewesen.
Brutal direkt.
Ihre Frau hat Krebs.
Ein Tumor im Magen.
Bösartig.
Inoperabel.
Ich würde sagen:
Noch ein halbes Jahr.
Aber wir werden ihr etwas gegen die Schmerzen geben.
Damals hatte Hans das Gefühl der Betäubung erfasst.
Und nicht mehr losgelassen.
Er ging wie durch eine Welt mit verzerrten Bildern.
Wer dachte sich so etwas aus?
Wer nahm ihm seinen Sohn?
Und seine Frau?
Welcher Gott?
Welches Schicksal?
Was hatten denn Veronika und er nur verbrochen?
Warum?
Es gab keine Antwort.
Er ertrank seinen Kummer in Bars.
Viel zu oft.
Und löste sich doch wieder.
Wegen der beiden Kinder.
Die ihn brauchten.
Veronika war oft schon nicht mehr bei sich.
Sie fantasierte manchmal von dem toten Buben.
Wenn sie unter Schmerzmitteln stand.
Bisweilen erkannte sie ihn auch nicht mehr.
Aber vielleicht war das auch besser.
Besser als die furchtbaren Schmerzen.
Besser als das Leid, so jung sterben zu müssen.
Und das Leben ohne den geliebten Sohn…
Nach einer wahren Begebenheit
Vivienne