Hilde schreckte aus dem Schlaf hoch.
Die Stimme ihrer Mutter klang ihr noch im Ohr.
So wie neulich.
Du bist undankbar.
So unglaublich undankbar.
Was verlange ich denn?
Dass du ein wenig Zeit mit mir verbringst!
Was weißt du schon, wie alleine ich bin!
Aber ich bin dir egal!
Völlig egal!
Hilde saß aufrecht auf der Matratze.
Beugte sich nach vor.
Und atmete schwer.
Immer wieder dieser Traum.
Kaum eine Nacht ohne das Gekeife ihrer Mutter.
Die wie ein böser Geist auftauchte.
Um ihr ein schlechtes Gewissen einzuimpfen.
Um sie zu quälen.
Hilde robbte von der Matratze herunter.
Und stand auf.
Es war noch nicht spät.
Aber der Albtraum laugte sie aus.
Darum war sie heute früher zu Bett gegangen.
Meist fühlte sie sich zerschlagen.
Morgens, wenn sie aufstand.
Nach einer Nacht.
Die sie oft Stunden wach gelegen war.
Weil sie Angst hatte.
Angst, wieder einzuschlafen.
Angst, wieder so schlecht zu träumen.
Sie sah sich um in ihrer Wohnung.
Alles noch behelfsmäßig.
Nur der Küchenblock war fertig.
Im Schlafzimmer hatte sie eine Matratze liegen.
Der Kleiderkasten.
Die Schränke und Kommoden.
Das alles musste erst gekauft werden.
Und danach zusammengebaut.
So nach und nach.
Es eilte nicht.
Hildes Blick wurde energisch.
Hauptsache weg aus dem Haus ihrer Mutter…!
Dabei war sie, Hilde erst vor einem Jahr zurückgekommen.
Aus Deutschland.
Nach über zehn Jahren in Hamburg.
Sven.
Ihr langjähriger Lebensgefährte.
Er war dort Geschäftsführer gewesen.
Sie hatte für ihn gearbeitet.
Bis vor gut einem Jahr.
Da war eine Affäre Svens aufgeflogen.
Diesmal etwas Ernsteres.
Und darum war sie, Hilde, heimgekommen.
Sie hatte nicht mit ihrer Nachfolgerin weiterarbeiten wollen.
Und sie hatte ein gutes Jobangebot bekommen.
Mit jener Firma hatte sie auch geschäftlich schon zu tun gehabt.
Also war sie heimgeflogen.
Mit drei großen Koffern.
Ihre Eltern hatten sie am Flughafen abgeholt.
Und sie, Hilde, war erschrocken.
Ihr Vater war erschreckend mager gewesen.
Und hatte kaum Luft bekommen…
Er hatte Krebs.
Die Diagnose war erst ein paar Tage vorher gestellt worden.
Eine Operation stand ihm bevor.
Ihre Mutter hatte Hilde angestrahlt.
Gut.
Gut, dass du da bist!
Irgendetwas hatte Hilde bei diesen Worten irritiert.
Es hatte aufbegehrt in ihr.
Aber vorläufig war nur eines wichtig.
Dass sie hier wohnen konnte.
Im Haus ihrer Eltern.
Bis sie eine andere Bleibe fand…
Die Krankheit des Vaters lenkte sie ab.
Von Liebeskummer.
Und vom Gefühl, unattraktiv zu sein.
Versagt zu haben.
Um ihren Vater stand es schlecht.
Er überlebte das kommende halbe Jahr nicht mehr.
Die Chemotherapie war über seine Kräfte gegangen.
Und der Krebs hatte sich trotzdem ausgebreitet.
Fast rasend schnell…
Ihre Mutter hatte Tage geweint.
Nach seinem Tod.
Hilde hatte ihre Hand gehalten.
Ihr gut zugeredet.
Wann immer sie Zeit dafür hatte.
Aber der neue Job forderte sie auch.
Und das Leben würde weitergehen.
Das würde auch ihre Mutter begreifen…
Wochen später fand sie, Hilde, sich in einem Albtraum.
Ihre Mutter hatte sich gefangen.
Und nahm dafür sie, Hilde, mit Beschlag.
Sie hatte keine ruhige Minute mehr.
Ob sie nur spazieren wollte.
Oder einen Freund treffen wollte.
Ihre Mutter folgte ihr.
Auf Schritt und Tritt.
Ohne Genierer.
Du kannst mich doch nicht alleine lassen!
Beleidigt sah sie ihre Mutter jedes Mal an.
Wenn sie, Hilde, aufbegehren wollte.
Konnte sie das ihrer Mutter wirklich nicht zumuten?
Allein zu Haus?
War das Unrecht?
Sie versuchte es sich einzureden.
Gegen jede Logik.
Aber schließlich glaubte sie ersticken zu müssen.
Sie bekam einen trockenen Husten.
Der nicht mehr aufhören wollte.
Der sie nach Luft ringen ließ.
Oft mehrmals am Tag.
Antibiotika halfen nicht.
Wie denn auch?
Es gab keinen organischen Befund.
Kein Infekt.
Keine Allergie.
Ich muss weg von daheim!
Der Wunsch wurde übermächtig.
Hilde begann sich um eine Wohnung umzusehen.
Und nahm die erste, die man ihr anbot.
Die war völlig leer gewesen.
Bis auf den Küchenblock.
Egal.
Einrichten konnte sie später!
Ihre Mutter hatte geahnt, was sie plante.
Und sie hatte ihr eine Szene gemacht.
Beim Abschied.
Wie erwartet.
Mit Tränen und Schreien.
Und schließlich die Maske des Racheengels.
Es wird dir noch Leid tun!
Hörst du?
Mich hier im Stich zu lassen!
Ganz allein!
Du kennst keine Verantwortung.
Ich bin dir egal!
Hilde hatte sich nicht mehr umgedreht.
Ein Freund wartete im Auto.
Sie musste sich beeilen.
Das Schreien ihrer Mutter verfolgte sie seither.
In vielen Träumen.
Aber ihr Husten…
Der war schon zwei Tage später weg gewesen.
Völlig.
Vivienne