Ich ging die breite Straße entlang, sah die vielen Menschen um mich herum, die an mir, so kam es mir vor, achtlos vorüber gingen. Der Strom der Menschen hat eine ungeheure Kraft, er ist wie ein Motor, der, wenn er einmal läuft, nicht mehr zu stoppen ist. Es geht immer weiter, es muss immer weiter gehen, das Leben will gelebt werden und es will nicht an das Sterben gedacht werden, aber der Mensch, er ist natürlich sterblich, die Natur jedoch kann niemals sterben, es sei denn, sie wird vom Menschen mutwillig zerstört.
Der Lebende verdammt, ja verdrängt den nahenden Tod, solange es ihm möglich erscheint. Wer leben will, will gerade nicht sterben, auch wenn es unvermeidlich ist. Der Selbsterhaltungstrieb, treibt uns alle an, er sucht das blühende Leben, den Puls der Zeit, er möchte das Leben schmecken, es auskosten, sich darin baden und das „Blaue am Himmel“ sehen. „Das Staunen“(Goethe), das uns alle einmal packt, wenn wir etwas Besonders gesehen haben, aber auch die Lust am anderen Geschlecht, das sich Verlieben, Küsse auszutauschen, Zärtlichkeiten erfahren und die Sonne lacht von oben herab, mit ihren heißen goldenen Strahlen. Der Liebe jedoch, folgen die Tränen manchmal in schneller Folge, so dass dem ekstatischen Gefühl des Verliebtseins, die Trennung von einem geliebten Partner, einen heftigen seelischen Schmerz auslösen kann, der das Liebesspiel abrupt beendet und die Kehrseite der Medaille offenbart, die schon so manchen Menschen aus der Bahn gekegelt hat. Das Leben erscheint als gefährliches Spiel, dessen Ende uns bewusst ist und wir werden unser Grab haben, wir werden unter der Erde liegen, bis wir verfaulen oder in einer Urne wird unsere Asche nur schemenhaft zu erkennen sein. Vielleicht wird man sich unser erinnern, wenn man an unserem Grab steht, wenn die weißen Hände feste zum Gebet gefaltet sind, den Blick starr auf den Grabstein gerichtet. Sie erinnern sich unser, sie versuchen sich vorzustellen, als wir noch lebten, aber am Leben sind wir schon lange nicht mehr, das Spiel ist aus(Sartre), für immer, für immer und ewig. Die Maske des Todes hat uns erfasst, die roten Maden zerfressen unserer blasses, totes Gesicht, zerfressen unsere starren milchigen Augen, bis irgendwann, nur noch die Knochen übrig bleiben.
Der Tod ist den Menschen unheimlich, man würde meinen, er lache uns Lebende hämisch aus, er weiß, das er uns alle kriegen wird, dann wird er sein teuflisches Handwerk beginnen und wenn wir dann in diesen massiven Eichensärgen liegen, dann beginnt er wieder sein grässliches Lachen, das zynisches Lachen des Todes.
Sein Gesicht ist durch die stählerne Maske nicht auszumachen, aber seine verfaulten Zähne, die durch einen Schlitz in der Maske am Mund gut zu erkennen sind und dunkel gelben Plack aufweisen und der dazu kommende üble Mundgeruch des Todes, würde den Lebenden das Grauen auf Erden beibringen, das sie so schnell nicht vergessen werden. Doch der Tote darf verfaulen, er hat sein Leben gehabt, sei es glücklich, sei es unglücklich gewesen. Nie mehr wird der Tote die schöne Sonne
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sehen, die Hitze im Sommer spüren und im Winter, wenn die weißen Schneeflocken von grauen Himmel tanzen und die Straßen, leise Stück für Stück einschneien werden, dieses Schauspiel wird der Tote nicht mehr erleben können, er liegt nun unter der Erde, man sieht ihn nicht mehr, man wird ihn niemals wieder sehen.
Die meisten Menschen verdrängen das Ableben, die Fratze des Todes, solange es ihnen möglich erscheint. Doch irgendwann spürt man diese tödliche Nähe, das den Puls noch einmal in die Höhe katapultieren lässt, man kämpft verzweifelt gegen ihn an, vielleicht stößt man einen gewaltigen Schrei aus, weint bittere Tränen, doch der Sarg steht schon bereit, das Grab ist bereits bestellt, auch der Grabstein wird bald fertiggestellt sein. Doch der Lebende will das nicht zur Kenntnis nehmen, er will noch weiter leben, bis zum letzten Atemzug die Schönheit des Lebens auskosten, nochmals die liebe Sonne sehen, nochmals den kalten Winter spüren und seine Liebste ein letztes Mal zärtlich küssen, sich noch einmal in den Armen liegen, noch einen letzten Kuss geben, denn der Abschied, scheint unumgänglich.
Bisher haben es wir noch alle geschafft zu sterben und deshalb werden auch wir sterben können und müssen, auch wenn wir uns, aus verständlichen Gründen, mit Händen und Füßen dagegen wehren. Vielleicht sehen wir uns in unserer Vorstellung im Himmel alle wieder, reichen uns dort die abgestorbenen Hände, sehen aus wie Zombies, von diesen ekeligen Maden zerfressen, die Haut mit blauen Flecken übersät, die anzeigt, das man nicht mehr unter den Lebenden weilt. Lange ist es her, das sie gelebt haben, das sie eine Familie hatten. Wenn der Sargdeckel einmal zugeschlagen ist, gibt es kein zurück mehr, denn der Tod scheint ewig zu sein und kennt keine Grenzen. Das Leben jedoch bleibt begrenzt, es kann dem Tod nicht das Wasser reichen. Und die Jahrhunderte, die Jahrtausende werden vergehen und unser Grab wird es schon lange nicht mehr geben und unsere Kinder sind auch schon längst tot und so kann man dies unendlich weiterführen. Nur im kalten Winter, wenn der Schnee schräg vom Himmel fällt, dann denkt man eher an den Friedhof, als an heißen Tagen im Sommer, denn die Kälte des Winters lässt einen die Toten besser spüren. Ob die Verstorbenen ewig ihr Dasein fristen, ob sie hin und wieder lachen oder einfach stumm bleiben, das weiß niemand so genau. Sollten wir es überhaupt wissen? Ich kann nur sagen: Wartet es ab, denn auch euer Tod wird euch gewiss sein.
Wilhelm Westerkamp