Verdrängung

Helga wischte sich die Tränen vom Gesicht.
Primar Steiner hatte eben mit ihr gesprochen.
Nicht beschönigend.
Aber er machte ihr doch auch etwas Mut.
Der Eingriff war erfolgreich, Frau Gräf.
Jetzt muss ihr Mann geduldig sein.
Sein Job muss warten.
Seine Gesundheit hat Vorrang.
Er wird Ihre Unterstützung brauchen.
In ein paar Wochen sehen wir weiter…
Helga schluckte.
In ein paar Wochen…
Nach der Intensivstation.
Angehängt an Schläuche.
Apparaturen, die ihn rund um die Uhr kontrollierten.
Herzschlag.
Atmung.
Und ein Schmerzkatheder.
Damit er nicht zu viel spürte von der Operation…

Helga trat aus dem Spital.
Dort vorne stand ihr Wagen.
Aber sie wollte heute nicht mehr selber fahren.
Zu aufgewühlt war sie.
Fahrig und unkonzentriert.
Obwohl sie diese Nacht durchschnaufen durfte.
Die Operation war erfolgreich gewesen.
Und Alfred war in besten Händen…
Sie winkte einem Taxi.
Stieg neben dem Fahrer ein.
Drexelstraße.
Gleich neben dem Museum.
Ihre Stimme klang monoton.
Der Fahrer nickte.
Helga kramte in ihrer Handtasche.
Sie fühlte ihre Müdigkeit mit Allmacht.
Jetzt, wo alles vorbei war.
Sie lehnte sich zurück.
Schloss die Augen.
Die letzten Wochen liefen an ihr vorbei.
Wie ein Film im Innersten…

Alfred schien wie immer zu sein.
Immer im Stress.
Ständig Überstunden.
Er hatte schon mal über Bauchschmerzen geklagt.
Und Appetitlosigkeit.
Aber war das nicht normal in so einer Position?
Irgendwann hatte er nebenbei davon gesprochen.
Ich werde mal zum Arzt gehen.
Der soll mir was geben.
Ich habe wahrscheinlich nur zuviel Magensäure…
All das war ihr plausibel erschienen.
So viele Menschen litten an Bauschschmerzen.
Weil sie zu viel aßen.
Weil sie das falsche aßen.
Weil sie unregelmäßig aßen.
Im Grunde waren die Beschwerden oft harmlos…
Sie hatte ganz vergessen ihn wegen des Arzttermins zu fragen.
Was der Dr. diagnostiziert hätte.
Und was er an Medikamenten verschrieben hätte.
Alfreds Bauchschmerzen.
Sie schienen so banal…

Der Taxifahrer blieb abrupt stehen.
Sind wir hier richtig?
6,50 € bitte!
Helga fühlte sich etwas benommen.
Sie drückte ihm das Geld in die Hand.
Der Rest ist für Sie.
Vorsichtig stieg sie aus.
Ging langsam ins Haus.
Im Flur zog sie die Schuhe aus.
Der Anrufbeantworter blinkte.
Drei neue Nachrichten.
Helga kannte die Nummer sofort.
Ihre Tochter Emma hatte angerufen.
Sie wollte natürlich wissen, wie es ihrem Vater ging.
Weil sie selber nicht kommen hatte können.
Emma studierte gerade in Innsbruck.
An der Universitätsklinik.
Sie wollte Ärztin werden…
Welch eine Ironie des Schicksals…!
Emma stand kurz vor dem Abschluss.
Und ihr Vater rang mit einer schweren Krankheit.
Krebs.
Vielleicht unheilbar…

Helga legte auf.
Die Stimme der Tochter klang noch beruhigend in ihren Ohren.
Primar Steiner ist eine Koriphäe auf dem Gebiet.
Und Papa ist stark.
Der schafft das!
Ein paar Tränen standen in Helgas Augen.
Emma hatte wahrscheinlich Recht.
Aber der Gedanke, sie könnte Alfred verlieren…
Nein, jetzt wollte sie nicht daran denken.
Sie holte sich ein Glas Wasser aus der Küche.
Lehnte sich an die Wand…
Wenn sie sich jetzt zurückerinnerte…
Alfred war ihr schließlich schon etwas verändert vorgekommen.
Aber sie hatte das auf den Stress geschoben.
Auf den Ärger mit einem Mitarbeiter.
Er war noch wortkarger geworden.
Und aß fast gar nichts mehr.
Er trank nur noch Kaffee.
Und manchmal schluckte er Tabletten.
Dann, wenn er sich nicht beobachtet glaubte…

Trotzdem hatte sie keinen Verdacht gehegt.
Bis der Familienarzt anrief.
Und sie mit der Wahrheit konfrontierte.
Er hat Krebs, Helga.
Und er muss schnell operiert werden.
Sonst gebe ich ihm kein Jahr mehr.
In ein paar Monaten breitet sich die Krankheit im ganzen Körper aus.
Rede mit ihm!
Auf mich hört er nicht!
Wenn er es nicht für sich tun will.
Dann wenigstens für euch.
Dich und Emma…
Sie hatte geweint nach dieser Nachricht.
Voller Verzweiflung.
Wie konnte Gott das zulassen?
Alfred hatte sein ganzes Leben nur gearbeitet.
Keiner Fliege etwas getan.
Und er war anständig zu seinen Leuten…
Und Alfred vertraute ihr nicht.
Er hatte ihr kein Wort gesagt, wie es um ihn stand.
Er hatte alles verdrängt.
Als ob es ihn nichts anginge…

Erst am nächsten Tag fand sie die Kraft ihn anzureden.
Alfred war zusammengesackt.
Fahl im Gesicht.
Schweißtropfen auf der Stirn.
Wer kümmert sich um die Firma?
Ich kann doch die Leute nicht im Stich lassen…
Helga hatte zu weinen begonnen.
Ihre Stimme brach immer wieder.
Aber uns willst du im Stich lassen!
Emma und mich…
Du wirst kein Jahr mehr leben.
Nicht ohne Operation…
Helga verkrampfte ihre Hände in Erinnerung.
Sie hatten schließlich beide geweint.
Und zwei Tage später überwies ihn der Arzt ins Krankenhaus.
Die Operation war nur der erste Schritt gewesen.
Eine Chemotherapie würde folgen.
Und danach eine Reha…
Helga stellte das Glas in die Spüle.
Wie lange hätte Alfred wohl sein Geheimnis für sich behalten?
Ein paar Wochen?
Ein paar Monate?
Bis man ihm nicht mehr helfen hätte können?

Vivienne

Schreibe einen Kommentar