Vorbei

Siegfried lag in seinem Bett.
Im städtischen Krankenhaus.
Dritter Stock.
Chirurgische Abteilung.
Zwei Betten neben ihm.
Siegfried seufzte.
Zwei komische Vögel waren das.
Der eine Kerl löste Kreuzworträtsel.
Den ganzen Tag.
Sagte kaum ein Wort.
Der andere saß ständig im Aufenthaltsraum.
Rauchte und sah fern.
Jede dumme Serie.
Bis der Apparat abgedreht wurde.
Siegfried tastete nach dem Lichtschalter.
Es war dunkel geworden.
Siegfried rieb sich die Augen.
Morgen früh würden sie ihn wecken.
Die Pfleger auf der Station.
Und kurz vor 8:00 Uhr würden sie ihn nach unten bringen.
In den Operationssaal.
In dem dünnen Hemdchen.
Das alle Operationsopfer tragen mussten!
Operationsopfer.
Er hatte Angst.
Er hatte nie darüber gesprochen.
Nicht als seine Freundin da war.
Vorhin.
Nach der Arbeit hatte sie ihn besucht.
Mit Tränen in den Augen.
Sie hatte seine Hand gehalten.
Und immer zu lächeln versucht.
Unter Tränen…

Siegfried setzte sich im Bett auf.
Im Grunde hatte er sich immer kerngesund gefühlt.
War er nicht stets bärenstark gewesen?
Voller Energie.
Nicht umzubringen.
Einer, der sich nicht schonte.
Für seine Firma.
Seit bald dreißig Jahren.
Kurz nach der Lehre war er in das Unternehmen gestoßen.
Und er hatte dort Karriere gemacht.
Hatte bald das Ruder an sich gerissen.
Zuerst in der Abteilung.
Dann war es Schritt für Schritt nach oben gegangen.
Sein Wort hatte Gewicht.
Mit dem Vorstand war er schon Jahre per du.
Er verlangte immer alles von seinen Leuten.
Aber am meisten von sich selbst…
Siegfried saß vornüber gebeugt auf dem Bett.
Er starrte auf seine Knie.
Sie waren ganz weiß.
Er war blass geworden im Spital.
Als hätte ihn das Spital krank gemacht.
Und nicht seine Krankheit hätte ihn ins Spital gebracht…

Siegfried verharrte weiter in seiner Haltung.
Eine Routineuntersuchung hatte den Betriebsarzt stutzig gemacht.
Deine Blutwerte sind nicht in Ordnung.
Lass doch einmal von deinem Arzt einen Check machen.
Wahrscheinlich ist eh nichts…
Aber…
Er hatte den Blick des Arztes gespürt.
Irgendwie lauernd.
Drängend.
Zur Sicherheit.
Etwas in ihm hatte sich gewehrt dagegen.
Was sollte denn sein?
Und dennoch hatte er nicht mehr schlafen können.
Bis er einen Termin bei seinem Hausarzt vereinbarte.
Weitere Bluttests.
Jede Menge Untersuchungen.
Und schließlich die niederschmetternde Diagnose.
Er hatte Krebs.
Ein Karzinom an der Prostata.
Metastasen waren bereits im Rücken.
Morgen früh würde der Tumor entfernt werden.
Und nächste Woche wollte man mit einer Strahlentherapie beginnen.
War das so furchtbar?
Siegfried richtete sich auf.
Er hatte eine Chance.
Der Oberarzt war ehrlich gewesen.
Vielleicht schonungslos.
Aber ein paar Jahre noch in passabler Lebensqualität.
Sie schienen nicht unrealistisch.
Und er würde darum kämpfen.
Wie immer in seinem Leben.

Siegfried spürte plötzlich Tränen aufsteigen.
Er sprang auf und lief auf die Toilette.
Sperrte zu.
Und begann zu schluchzen.
Es würde schon weitergehen nach der Operation.
Und er war immer hart im Nehmen gewesen.
Aber…
Siegfried ballte die Fäuste.
Es würde ein Leben ohne Leidenschaft bleiben.
Er würde impotent bleiben.
Nach diesem Eingriff.
Das stand bereits fest.
Keine zärtlichen Nächte mehr mit seiner Freundin.
Kein Feuer der Liebe.
Kein Hunger nach ihrem Körper mehr.
Seine Sehnsüchte würden ungestillt bleiben.
Er würde sicher nicht sterben.
Zumindest nicht sofort.
Aber seinem Leben würde die Würze fehlen.
Die Freude.
In Hinkunft.
Und seine Freundin?
Heute hatte sie geweint.
Verzweifelt.
Aber irgendwann würde sie ihn verlassen.
Ihn.
Nicht weil er sterbenskrank war.
Nein.
Weil er sie nicht mehr glücklich machen konnte.
Und das durfte er ihr nicht einmal verübeln.
Hannes starrte sein Gesicht im Spiegel an.
Es war vom Weinen gerötet.
Er würde weiterleben…
Zumindest noch einige Zeit.
Aber manchmal beschlich ihn der Gedanke.
Es wäre besser für ihn zu sterben…

Vivienne

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